Sprache und Zukunft
Tempora mutantur, nos et mutamur in illis: Sprachwandel | Christiane Hohenstein
Zusammenfassende Aufgaben «Tempora mutantur, nos et mutamur in illis»
Aufgabe 1 | Leseauftrag [60']
Lesen Sie den Aufsatz „Und ob das Genus mit dem Sexus“ von Damaris Nübling Nübling, 2018 und notieren Sie dann drei Beispiele, die zeigen, dass im Deutschen das grammatische Genus eng mit Geschlechterstereotypen zu Männern und Frauen verbunden ist.
Wo spielt es in Ihrem Beruf eine Rolle, dass sich Männer wie Frauen gleichermaßen angesprochen fühlen? Welche sprachlichen Ausdrucksformen würden Sie zu diesem Zweck einsetzen, welche nicht (nachdem Sie den Artikel gelesen haben)?
Aufgabe 2 | Selbsttest [10']
- Inklusive Sprache kann gendergerechte Sprache umstandslos ersetzen.
- GS bedeutet eine sprachliche Bevorzugung von Frauen.
- GS ist eine Ideologie der Political Correctness.
- GS umfasst grammatische und pragmatische Formen des Sprechens und Schreibens.
- Um Sprachwandel zu fördern, sind gesellschaftliche Diskurse notwendig.
- Gesellschaftliche Veränderungen ziehen Sprachwandel nach sich.
- Die Zukunft der Sprache hängt von den Menschen ab, die sie benutzen.
- Sprachwandel ist ein unumkehrbarer, natürlicher Prozess.
1 a.
Nein, trifft nicht zu, denn inklusive Sprache setzt meistens andere marginalisierte Gruppen ins Recht und "vergisst" oder vernachlässigt darüber eine gendergerechte Sprache, vgl. auch die Analyse der Argumentation in Aufgabe b2, in der es um inklusiv-barrierefreie Sprache vs. gendergerechte Sprache geht. Zwar umfasst Inklusive Sprache theoretisch und prinzipiell neben Gender weitere Dimensionen von Diversität, die zu einer Diskriminierung führen können, z.B. Behinderung, Alter, Religion, Hautfarbe. Das Geschlecht ist aber nach wie vor ein so zentraler Grund für Diskriminierung, vor allem gegenüber Frauen, dass die gendergerechte Sprache einen eigenen Stellenwert hat. Frauen sind häufig aus mehreren Gründen von Diskriminierung betroffen, z.B. Behinderung und Geschlecht, Hautfarbe und Geschlecht, Alter und Geschlecht (sogenannte Intersektionalität). Deshalb ist es wichtig, gendergerechte Sprache im Zusammenhang mit inklusiver Sprache zu sehen, aber nicht mit ihr gleichzusetzen.
1 b.
Nein, trifft nicht zu. GS macht die binären Geschlechtsphänotypen Mann und Frau gleichermaßen sichtbar und hat den Anspruch, auch die nicht-binären Geschlechtsidentitäten einzuschließen und mitdenkbar zu machen.
1 c.
Lösung a: Ja, wenn man Political Correctness als eine Ideologie betrachtet; allerdings ist das nur zulässig unter der Voraussetzung, dass auch die Nicht-Political Correctness als Ideologie verstanden wird. Die meisten Verfechter der These, dass Political Correctness eine Ideologie sei (und deshalb bekämpft werden müsse) sehen sich selbst dagegen nicht als ideologisch: das zeigt einen blinden Fleck in der Selbstwahrnehmung und leugnet die Tatsache, dass diskriminierenden Praxen in der Regel, auch wenn sie für "normal" gehalten werden, mehr oder weniger gesellschaftlich anerkannte Ideologien zugrunde liegen.
Lösung b: Nein, trifft nicht zu, denn Political Correctness funktioniert nicht wie eine (politische) Ideologie mit fixen Axiomen oder politischen Überzeugungen. Sie dient vielmehr als Sammelbegriff für Bemühungen, geltenden demokratischen Rechten, Pflichten und Umgangsformen Raum und Gehör zu verschaffen und sie für alle umzusetzen.
1 d.
Ja, trifft zu. Ein Beispiel für grammatische Formen der GS ist die Verwendung von Maskulinum und Femininum als Sexus-differenzierende Kategorien für Personen anstatt des sogenannten generischen Maskulinums, z.B. nicht von einer "Ärztegruppe" zu sprechen, die eine Studie durchführt, sondern von einem "Team aus Ärztinnen und Ärzten".
Ein Beispiel für pragmatische Formen des Sprechens und Schreibens ist das Innehalten (Glottisschlag) beim Sprechen vor der femininen Endung einer Personenbezeichnung und dessen Repräsentation in der Schrift durch Mediopunkt, Doppelpunkt, Gender-Gap o.ä. zusätzliche Notationsmöglichkeiten (z.B.: Beispiel Mediopunkt, Deutsch: "Die Beschwerdemöglichkeiten für Nutzer·innen müssen gestärkt werden – und die Inhaltsmoderation transparenter gestaltet werden. Nutzer·innen müssen nicht nur transparent informiert werden, wenn ihre Inhalte gelöscht oder ihre Accounts gesperrt werden – und aus welchen Gründen dies geschieht –, sondern sollen diese Entscheidungen auch mittels effektiven Beschwerdemöglichkeiten anfechten können."
https://algorithmwatch.ch/de/parlamentsanhorung-plattformregulierung/ Zugriff: 11.03.2022
2 a.
Ja, gesellschaftliche Diskurse fördern den Sprachwandel und sind wesentlich für Veränderungen, die eine Sprache durch ihre Verwendung erfährt. Zugleich kann man sich fragen, ob gesellschaftliche Diskurse zwingend notwendig sind, um einen Sprachwandel zu fördern. Z.B. kann Sprachwandel durch gesetzliche Vorschriften durch eine Regierung betrieben werden. Dass ein Sprachwandel per Dekret verordnet werden kann, zeigen z.B. die Säuberung der türkischen Sprache von Arabismen, der Umbau der deutschen Sprache in die nationalsozialistische Sprache des Hitler-Reiches in den 1920er-1940er-Jahren oder der Beschluss der deutschen Rechtschreibreform 2006. Diese wurden durch die politischen, juristischen und administrativen Organe des Staates durchgesetzt. Auch sie waren aber eingebettet in gesellschaftliche Diskurse, die letztlich diese politischen Maßnahmen ermöglichten und umsetzten. Der gesellschaftliche Diskurs spielt daher auch eine Rolle für die Durchsetzung einer Sprachpolitik. In demokratisch organisierten Gesellschaften haben gesellschaftliche Diskurse ein großes Potenzial, durch prägnante und innovative Sprachverwendung zu Veränderungen in der Gesellschaft und in der Sprache zu führen.
2 b.
Ja, in der Regel spiegeln sich gesellschaftliche Veränderungen in der Sprache, d.h. sie treiben Sprachwandel an. Z.B. war noch in der Generation der im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts Geborenen der Ausdruck "Muslim" bzw. "Muslima" im Deutschen ungebräuchlich (es gab dagegen den abfälligen Ausdruck "Muselmann"). Durch Zuwanderung und die gesellschaftliche Sichtbarkeit des Islam sind im heutigen Deutschen zahlreiche Ausdrücke aus diesem Umfeld gebräuchlich und den meisten Sprecher:innen geläufig. Umgekehrt kann durch gesellschaftliche Diskurse – z.B. um Diskriminierung – ein Wandel im Sprachgebrauch entstehen, der dann auch gesellschaftliche Veränderungen bewirkt – GS ist dafür ein Beispiel. Sprachlicher und gesellschaftlicher Wandel sind so eng miteinander verbunden, dass es kaum möglich ist, von einer unidirektionalen Kausalität (dass der eine den anderen verursacht) zu sprechen.
2 c.
Ja, aber nicht ganz ausschließlich. Wenn wir unsere Sprachverwendung zunehmend auf datenbasierte und oft mit Bias versehene Big data-Korpora stützen, kann ein Bias in den Daten auch dazu führen, dass die Daten dann in der Folge unseren Sprachgebrauch prägen und zu einer stärker formelhaften und eingeschränkten Sprache führen, weil häufige Ausdrucksweisen sowie Fehler, die in den Daten sind (z.B. in Blogbeiträgen und Kommentaren, die grammatische Fehler enthalten) übernommen werden. Als Sprachprofis können und müssen wir dem mit unserem Wissen gegensteuern, dann stellen wir sicher, dass die Zukunft der Sprachen von den Menschen, nicht von den Maschinen abhängt.
2 d.
Nein, Sprachwandel kann z.B. durch sprachpolitische Korpusplanung eingedämmt und ein Sprachstandard kann auf eine vermeintlich "reinere", frühere Form festgelegt werden. Das ist dann kein natürlicher, sondern ein politisch gewollter Prozess. Natürlicher Sprachwandel in der Alltagssprache findet dann zwar trotzdem weiter statt, aber im öffentlichen Diskurs kann die Sprache z.B. durch politisch repressive Maßnahmen eingeschränkt, können bestimmte Formen tabuisiert werden. Diese Einschränkungen und Tabuisierungen können später auch wieder aufgehoben werden.
Aufgabe 3 | Diskursprognose [60']
Recherchieren Sie, in welchen Zusammenhängen der Gender-Stern und gendergerechte Sprache in deutschsprachigen Zeitungen erwähnt oder thematisiert werden. Stellen Sie zusammen, was Sie gefunden haben, und geben Sie darauf basierend eine Einschätzung ab, wie sich der Diskurs in Zukunft entwickeln könnte.