Die Praxis in Sprachberufen untersuchen
Herausfinden, was der Fall ist: Fallstudien wählen | Prof. Dr. Daniel Perrin
Thema d Transdisziplinarität: Fallstudien für Praxis und Wissenschaft
Aufgabe 1 | Transdisziplinär: Was diese Forschung ausmacht [5']
Sie finden hier fünf Behauptungen, was zu transdisziplinärer Forschung (TDF) gehört. Welche davon treffen zu, welche nicht, und warum?
- TDF beginnt, wenn die Forschung der Praxis die Problemlösung erklärt.
- In TDF arbeiten Forschende und Laien aus der Berufsfeldpraxis eng zusammen.
- TDF eignet sich vor allem, um theoretische Probleme systematisch zu lösen.
- TDF bevorzugt Laboruntersuchungen gegenüber Studien in der realen Welt.
- TDF analysiert ein Problem, vermeidet aber, es zu lösen, weil dies parteilich wäre.
- TDF endet, wenn die Resultate der Studie veröffentlicht sind.
- Nein, sie beginnt beim gemeinsamen Festlegen der Forschungsfrage.
- Jein – die Leute aus der Praxis sind dabei, aber als Expert*innen ihrer Praxis.
- Nein, gelöst werden vor allem gesellschaftlich relevante Praxisprobleme.
- Nein, TDF untersucht die Lebenswelt, in ihrer ganzen Vielschichtigkeit.
- Nein, eine theoretisch begründete, nachhaltige Problemlösung ist genau das Ziel.
- Nein, wenn die Lösung überprüft ist und in der Praxis funktioniert.
Aufgabe 2 | Fachleute: Warum wir alle Expert*innen und Laien sind [10']
In den Daten der Fallstudie Syrien findet sich die folgende Aussage eines beforschten Journalisten. Er äußert sich zu einer Stelle, die er übersetzt hat, indem er den Sinn der Quellenäußerung in die Zielsprache übertragen hat – statt den Satz Wort für Wort zu übersetzen:
0786 und es macht keinen sinn einfach zu übersetzen so wie es ist 0787 das kann allenfalls ein übersetzer machen 0788 der einfach nur übersetzt 0789 ich muss verstehen was er meint 0790 sonst versteht es der zuschauer natürlich auch nicht
Wie denkt der Journalist über die Arbeit von Übersetzer*innen? Was vermuten Sie, wie würden hier beruflich Übersetzende und Dolmetschende antworten?
Überlegen Sie an diesem Beispiel, ob die Aussage für Sie zutrifft, die im Titel der Aufgabe steht: Wir sind alle zugleich Expert*innen und Laien.
Und argumentieren Sie am Beispiel dieses Datenausschnitts, ob transdisziplinäre Fallstudien zu Recht alle Anspruchsgruppen eines Problems mit einbeziehen oder nicht.
Der Journalist sagt (und denkt vermutlich), er müsse – im Gegensatz zu Übersetzer*innen – den Sinn des Ausgangstexts verstehen und nicht einfach nur den Wortlaut übersetzen. Er scheint nicht zu wissen, dass das Verstehen des Ausgangstexts der Schlüssel jeder guten Übersetzung ist, erst recht im Verständnis der Leute, die hauptberuflich übersetzen.
Der Journalist entpuppt sich damit als absoluter Laie, wenn es ums berufliche Übersetzen geht. In seinem eigenen Fach dagegen ist er Experte.
Deshalb ist es wichtig, dass in einer Fallstudie wie Syrien Praktiker*innen aller beteiligten Berufsfelder – also etwa Journalist*innen, Medienmanager*innen und Übersetzer*innnen – mitwirken. So können alle ihre eigene Expertise einbringen und voneinander lernen.
Aufgabe 3 | Hypothesen: “The opposite is also true” [20']
Fallstudien können Neuland erkunden, sie können aber auch bestehende Theorien überprüfen. Im Fall Biomed sind das Theorien zu interkultureller Organisationskommunikation.
Solche Theorien, aus Wissenschaft und Alltag, hat der TED-Autor Derek Sivers in einem kurzen Lehrstück zusammengefasst. Der Beitrag endet mit dem indischen Sprichwort “Whatever true thing you can say about India, the opposite is also true”:
Sehen Sie sich das Video an und fassen Sie zusammen, was Sie verstanden haben zu den Grundzügen interkultureller Kommunikation. Welche Hypothesen könnten Sie, gestützt auf solches Wissen, formulieren für die Fallstudie Biomed.
Eine Hypothese könnte etwa so lauten: Die Kommunikation von Biomed berücksichtigt die Denkweisen und Perspektiven der Adressat*innen. Ob eine solch allgemeine Hypothese zutrifft, zeigt sich dann etwa darin, dass in der Kommunikationsabteilung des Hauptquartiers Bemühungen sichtbar sind, Unterschiede zwischen der eigenen Kultur und der des Gegenübers zu erkennen und zu berücksichtigen – oder eben nicht.
Aufgabe 4 | Gute Praktiken: Gilt auch für Forschende [20']
Gehen Sie nochmals zurück zum Thema Erkenntnisinteresse, und zwar zur Aufgabe 3, in der die Journalistin XY bei dem bleibt, was sie auszeichnet. Welche guten Praktiken können Sie ihr zuschreiben, wenn Sie die Daten und Ihre Lösung Revue passieren lassen.
Welche nicht so guten Praktiken könnten Sie den Autor*innen dieser Aufgaben zuschreiben, wenn diese den Fall XY wirklich sicher hätten anonymisieren wollen – so dass niemand je herausfinden kann, wer XY wirklich ist? Stichwort hier: Internetrecherche …
In der kurzen Wiedergabe von Ausschnitten aus der Fallstudie XY scheinen gute Praktiken auf mehreren Ebenen auf:
ein abstraktes gesellschaftliches Problem veranschaulichen am Schicksal einzelner, beispielhaft betroffener oder handelnder Menschen als Praktik der Textproduktion;
an einer Studie teilnehmen, um mehr über sich selbst zu erfahren und sich so verbessern zu können als Praktik der gesteuerten eigenen Weiterentwicklung;
sich ein neues Umfeld suchen, wo genau das gefragt ist, was man besonders gut kann, statt sich zu verbiegen als Praktik der Laufbahngestaltung.
Eine kurze Internetrecherche mit Textfragmenten aus den Daten der Aufgabe kann zutage fördern, wer XY wirklich ist. Das ist hier nicht weiter problematisch, weil XY mit der Publikation des Falls einverstanden ist. Es illustriert aber ein grundsätzliches Problem von Fallstudien: Je tiefer sie greifen, desto leichter verweisen die Daten auf die untersuchte Person – erst recht, wenn Online-Daten mit eingebunden werden. Forschungsethik verlangt aber den umfassenden Schutz der Beforschten. Das führt dazu, dass Texte über Fallstudien oft nur zusammenfassend berichten, dass sie realitäts-nahe Fälle simulieren entlang realer Fälle – oder dass sie, wie hier, vor allem die guten Praktiken der Untersuchten zeigen, also positive Beispiele veröffentlichen und nicht das Versagen, das es in der Praxis natürlich auch gibt.