Back Stage – Blick hinter die Kulissen
Hinter dem, was ist: Sprache, Welt und Wahrnehmung | Daniel Perrin
Thema d Kultur und Praktik: Wie wir uns mit Sprache ausgrenzen und einbinden
Aufgabe 1 | Varietäten: Anders gesagt … [10']
In der Übung Anders gesagt trainieren Sie, von der Varietät auf die Sprachgemeinschaft zu schließen.
- Wo erwarten Sie eine Äußerung wie Das gereicht uns zum Guten? Und wo Zentrieren Sie Ihre Schulterblätter, bevor Sie die Rotatoren-Manschette belasten?
- Überlegen Sie, warum es so selten gelingt, in Werbetexten die Jugendsprache etwa von 16-Jährigen so zu sprechen, dass sich die Zielgruppe angesprochen fühlt.
- Welche Funktionen erfüllen die Varietäten aus den ersten beiden Punkten in ihren jeweiligen Umgebungen? Was ginge beim Übersetzen in übliche Umgangssprache verloren?
- Das gereicht uns zum Guten kann aus einem sehr formellen Kontext stammen, wo der Sprachgebrauch anzeigen soll, dass man Tradition und Stil pflegt. Die Wendung ist sozusagen Frack und Zylinder in Worten. Zentrieren Sie Ihre Schulterblätter … deutet auf Kontexte wie Fitnesstraining oder Physiotherapie.
- Jugendsprache verändert sich sehr schnell. Wer fünf Jahre älter ist und Werbetexte schreibt, schreibt meist so, wie man vor fünf Jahren in der Szene sprach und schrieb. Wenn, müssen die Texte von Menschen verfasst sein, die jetzt tatsächlich in der Szene leben. Dazu kommt aber, dass die Textsorte Werbetext schon eine Übersetzung aus der Szene in einen formalen Rahmen bedingt. Dieses Problem umgehen Influencer*innen, die aus der Szene für die Szene bloggen, scheinbar aus Freude, ihr Leben in ihrer Sprache mit Peers zu teilen.
- All diese Varietäten stellen Nähe zur Domäne oder Szene her, in der sie gesprochen werden, etwa Fitness oder Jugendszene. Beim Übersetzen in Umgangssprache geht dieses Gefühl verloren, über die Sprache dazuzugehören.
Aufgabe 2 | Dialekt: Das Chuchichäschtli-Orakel [20']
Unsere Sprache zeigt nicht nur, wer wir sind, sondern auch, woher wir kommen. Für schweizerdeutsche Dialekte, also für die regional bestimmten Varietäten der Deutschschweiz, hilft Ihnen dabei die Dialäkt Äpp.
- Falls Sie einen schweizerdeutschen Dialekt sprechen: Testen Sie das Chochichästli-Orakel. Falls nicht: Beschreiben Sie kurz, wie es funktioniert: http://from.ch/dialects/
- Und jetzt die erweiterte Variante davon: die Dialäkt-Äpp, zum Herunterladen im App Store. Gleiche Aufgabe, aber auf dem Spielplatz für Fortgeschrittene: https://apps.apple.com/de/app/dialäkt-äpp/id606559705
- Wer die App nutzen will, wählt bei zehn vorgegebenen Wörtern unter jeweils einer überschaubaren Anzahl vorgegebener Varianten aus, wie sie oder er dieses Wort spricht im eigenen Dialekt. Diese Angaben reichen der App aus, um auf wenige Kilometer genau zu bestimmen, wo in der Schweiz man aufgewachsen ist – vorausgesetzt, man mischt die Dialekte nicht beim Sprechen.
- In der Beschreibung der Dialäkt-Äpp erfahren Sie Wesentliches dazu, was es aus sprachwissenschaftlicher Sicht bedeutet, wenn das Ergebnis der App zutrifft oder eben nicht:
https://apps.apple.com/de/app/dialäkt-äpp/id606559705
Aufgabe 3 | Repertoire: Ihre Sammlung von Begrüßungen [10']
In welchen Kulturen bewegen Sie sich? Und welche sprachlichen Praktiken sind dort üblich? Mit anderen Worten: Wie spiegelt sich Ihre Welterfahrung in ihrem sprachlichen Repertoire? – Als künftige Sprachprofis schauen Sie hier auf Ihr bisheriges Repertoire von Begrüßungsformen und Sprachstilen:
- Wie begrüßen Sie Ihre Partnerin, Ihren Partner? Ihre Geschwister, Eltern und Großeltern? Ihre Sportskollegen und Sportskolleginnen? Ihre Mitstudierenden? Die Kollegen und Kolleginnen am Arbeitsplatz?
- Duzen Sie Ihre Nachbarn? Wenn ja, welche, und warum? Mit wem sind oder waren Sie am Arbeitsplatz per Sie? Und warum das?
- Welche Unterschiede in Stil, Grammatik und Rechtschreibung fallen Ihnen selbst auf, wenn Sie an Ihre Briefe, E-Mails, WhatsApp-Nachrichten und Tweets denken?
- Je persönlicher eine Beziehung, desto informeller und individueller kann der Sprachgebrauch sein. Wer sich persönlich sehr gut kennt, kann sich auch mit Blicken und Berührungen begrüßen. In formellen Beziehungen dagegen, etwa an einem neuen Arbeitsplatz, prüfen viele Menschen, wie man einander hier begrüßt, und übernehmen dann diese sozial eingeschliffene Norm, um dazuzugehören.
- Duzen im Deutschen dokumentiert und suggeriert eine gewissen informelle Nähe, sozusagen das Unkomplizierte.
- Je kommunikationsgewandter Sie sind, desto stärker werden Sie Ihren Stil dem Kontext anpassen – oder ganz bewusst dagegensteuern, um aufzufallen. Beides bedingt ein breites Repertoire an Varietäten und die Kompetenz, jeweils die passende Varietät auszuwählen.
Aufgabe 4 | Dialekt als Mund-Art: „I ha gnue” [15']
Die beiden Schweizer Dialekte Zürichdeutsch und Berndeutsch klingen für die Musikerin Dodo Hug nach unterschiedlichen Welten mit unterschiedlichem Lebensgefühl: der eine Dialekt geschäftig, der andere gemütlich. Welcher Dialekt steht in ihrem Lied I ha gnue wofür?
- Lesen Sie zuerst nur den Text des Stücks I ha gnue von Dodo Hug. Erkennen Sie die verwendeten zwei Schweizerdeutschen Dialekte? Und sehen Sie, wofür sie stehen?
https://www.jiosaavn.com/lyrics/i-ma-nümm-lyrics/ADwHfkx0Ymk - Jetzt das Gleiche beim Hören. Warum fällt es hier leichter, die Lebenshaltung zu erkennen, die Dodo Hug mit den zwei Dialekten verbindet?
https://www.youtube.com/watch?v=d_-s_PhcvAQ
- Zürichdeutsch steht für Stress, Berndeutsch für Entspannung.
- Das Zürichdeutsch spricht sie höher, schneller, kantiger; das Berndeutsch tiefer, langsamer, runder.
Aufgabe 5: Stil: Von Herzlichst bis Cheers [10']
Zeigen Sie kommunikative Kompetenz. In der Übung Stilsicher wählen Sie den Ausdruck, der für Sie im Stil am besten passt, und begründen Ihre Wahl:
- Mir graut vor … – was schließt hier stilistisch nahtlos an:
dieser Panne | diesem Ungemach | diesen Problemchen | diesem Berg Arbeit - Hallo Lea! – Ein Text, der mit dieser Anrede beginnt, schließt am besten mit:
Herzlichst | Herzlichen Gruß| Bis bald | Cheers - In einen Text, der das Phänomen der Resilienz beschreibt, passt auch der Begriff der
Inkompetenzkompensationskompetenz | Zoom Fatigue | starken Deklination - Warum sind diese drei Aufgaben in einem Lehrmittel, das von wissenschaftlich erzeugtem Wissen ausgeht, nicht ganz unproblematisch?
- Zwei Varianten: diesem Ungemach passt, weil es ebenfalls alt, gewählt und gesetzt klingt; diesem Berg Arbeit kommt hin, weil das Ganze zusammen leicht ironisch wirkt. Der Berg muss wirklich hoch sein, wenn einem davor graut. Das sind persönliche Einschätzungen und Begründungen. In bestimmten Kommunikaitonskontexten kann jede dieser Varianten als passend begründet werden.
- Auch hier: persönliches Stilempfinden. Nach dem deutschen informellen Hallo passt für mich Bis bald. Die Herzvarianten klingen zu förmlich, Cheers zu englisch. Was mit Cheers aufhört, könnte mit Hi Lea beginnen, damits passt.
- Die Zoom Fatigue stammt aus der gleichen Sprache, der Fachsprache einer Psychologie, die mit Laien kommuniziert. Das gilt zwar für das superlange Kompetenzwort auch, aber hier ist das Thema ein anderes. Die starke Deklination stammt aus einer anderen Fachsprache, Linguistik.
- Weil bei allen drei Aufgaben, vor allem aber den ersten beiden, individuelles, persönliches Stilempfinden mitschwingen. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich für praktisch jeden Fall ein Kontext finden, in dem genau diese Äußerung von vermutlich vielen Sprecher*innen als angemessen eingestuft würde.