Sprache und Zukunft
Tempora mutantur, nos et mutamur in illis: Sprachwandel | Christiane Hohenstein
Thema d Sprachpolitische Positionen in diskursiven Kontroversen: Korrektheit oder Kulturzerfall?
Aufgabe 1 | Wer schränkt was ein? ”Sprachverbot” [10']
Sie haben gesehen, dass es einen kontroversen medialen Diskurs um gendergerechte Sprache gibt. In diesem wird u.a. das Argument angeführt, dass Erlasse oder Reglements zur gendergerechten oder genderneutralen Sprache die freie Rede einschränken würden und dies einem Sprachverbot gleichkäme. Es lohnt sich, die medialen Beiträge zum Diskurs genauer anzusehen, die dahinter stehenden Positionen zu bestimmen und einen Vergleich mit den Schweizer Rechtsgrundlagen des Bundes zu ziehen.
Sehen Sie sich die aktuelle Version des Leitfadens zum gendergerechten Formulieren der Bundeskanzlei von 2023 an (kostenloser Download: https://www.bk.admin.ch/bk/de/home/dokumentation/sprachen/hilfsmittel-textredaktion/leitfaden-zum-geschlechtergerechten-formulieren.html).
Auf S. 16-17 sind die Weisung und die Begründungen für den Verzicht auf Genderstern, Doppelpunkt und andere Formen der inklusiven Genderreferenz dargestellt.
Welche Argumente werden genannt? Stellt dies ein Verbot dar? Ist eine inklusive, gendergerechte Sprache als Diskriminierung und Einschränkung des Rederechts ihrer Gegner zu verstehen?
Zum Vergleich können Sie einen Überblick zu den deutschsprachigen Regionen und Ländern (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetze_und_amtliche_Regelungen_zur_geschlechtergerechten_Sprache) sowie die Meldung eines rechtsgerichteten Parteiorgans ansehen (z.B. https://afdkompakt.de/2021/06/22/bravo-schweiz-verbietet-gender-stern-in-behoerden/).
Die Argumente der Bundeskanzlei gegen die Schreibweisen mit Sonderzeichen gründen sich auf das Gebot der Verständlichkeit, Aussprechbarkeit, Grammatizität und Eindeutigkeit der Referenz.
Die Unzulässigkeit des generischen Maskulinums wird im Leitfaden zur geschlechtergerechten Sprache der Bundeskanzlei sowie in der Weisung zum Genderstern von 2021 ausdrücklich bestätigt. Ausdrücklich fällt das unter Artikel 7 zur Verständlichkeit, die nicht für alle gegeben ist, wenn das Maskulinum generisch verwendet wird. Die Weisung des Bundes zum Nichtverwenden des Gendersterns und ähnlicher Symbole stellt zwar eine Einschränkung dar, beschränkt sich aber auf Bundesdokumente und empfiehlt ausdrücklich, genderneutrale Formen einzusetzen.
Die Rechtslage in der Schweiz ist eindeutig und durch die Bundesverfassung, das Sprachengesetz und das Gleichstellungsgesetz sowie die Agenda 2030 des EDA breit abgestützt. Das Schweizer Sprachengesetz legt seit 2007 eine Bemühung um geschlechtergerechte Formulierungen für die Bundesbehörden fest.
Dagegen wird in journalistischen Meldungen über die BK-Weisung oft ein Verbot des Gendersterns und ähnlicher Schreibweisen als Fakt dargestellt. Dass gendergerechte Schreibweisen insgesamt weiterhin gelten und vom Bund in Gesetzen und Richtlinien vertreten werden, gerät dabei aus dem Blick.
In der Diskussion um geschlechtergerechte Sprache wird von den Gegner:innen häufig ein Verbot des Genderns für Behörden und die öffentlichen Bildungsinstitutionen gefordert. Argumentiert wird meist mit besserer Verständlichkeit, obwohl diese empirisch nicht nachgewiesen ist. Auch das Recht auf Rede- und Meinungsfreiheit kann ein Verbot von Sonderzeichen nicht stichhaltig begründen.
Am Beispiel von rechtspopulistischen und antidemokratischen Medien wird deutlich, dass diese einen restriktiven Umgang mit der Sprache und ein Verbot befürworten. Die Meldung der BK-Weisung zum Genderstern wird z.B. genutzt, um demokratische Anliegen zu diskreditieren und zu veralbern sowie um politische Gegner zu verunglimpfen. In Deutschland wurden teilweise Verbote des Gendersterns und verwandter Sonderzeichen erlassen.
Das Schweizer Gleichstellungsgesetz, Art. 3 Diskriminierungsverbot stellt zudem ausdrücklich unter Absatz 3 fest: Angemessene Massnahmen zur Verwirklichung der tatsächlichen Gleichstellung stellen keine Diskriminierung dar. Das bedeutet, eine inklusive und gendergerechte Sprache stellt keine Diskriminierung von anderen gesellschaftlichen Gruppen dar. Sie verstösst nicht gegen das Recht auf Rede- und Meinungsfreiheit derjenigen, die eine andere Ausdrucksweise befürworten.