Back Stage – Blick hinter die Kulissen
Hinter dem, was ist: Sprache, Welt und Wahrnehmung | Daniel Perrin
Thema b Kontext, Kohärenz und Framing: Wie Geschichten im Kopfkino entstehen
Aufgabe 1 | Kohärenz: Abkürzung durch Weglassen [5']
Weglassen, was sich die Adressaten und Adressantinnen selbst dazu denken können. So sparen wir Zeit und Wörter – und dies im Alltag wie im Beruf. Ein Beispiel aus der Berufswelt finden Sie in der Übung Abkürzung:
- «Rechner abgestürzt, Datei nicht gesichert – es wird morgen, bis ich fertig bin» – Denken Sie sich eine Situation aus, in der diese SMS Sinn ergibt, und überlegen Sie, was alles zwischen den Zeilen steht.
- Die Kollegin hätte den Text bis heute 17 Uhr fertig schreiben und Ihnen zustellen sollen. Statt einer E-Mail mit der Textdatei im Anhang erhalten Sie nun diese SMS – die, wie üblich, nur die Brückenpfeiler für die Kommunikation liefert. Die Brückenbogen müssen Sie selbst ergänzen, aus Ihrem Wissen über die Welt und den Kommunikationskontext. Stünden die Brückenbogen auch der SMS selbst, würde sie jeden Rahmen sprengen und klänge etwa so:
- „Du, ich hatte Dir doch diesen Text bis heute um 17 Uhr versprochen. Und ich hätte diese Frist locker geschafft, wäre nicht vor einer Stunde mein Rechner abgestürzt. Erst nach dem Absturz merkte ich, dass ich die Datei nie gesichert hatte. Jetzt ist alles weg, und ich muss wieder ganz von vorne anfangen mit Schreiben. Du kannst Dir vorstellen, wie mich das ärgert. Ich lege mich ins Zeug, um morgen fertig zu werden; wann genau, weiß ich noch nicht.“
Aufgabe 2 | Kohärenzherstellung: Fall Tanker [10']
Dass wir beim Verstehen sofort Kohärenz herstellen, fällt uns selber auch gar nicht auf. Dazu der Fall Tanker:
- Der gesprochene Text zu einer tatsächlich ausgestrahlten Kurznachricht am Fernsehen lautete:
«50 km östlich der Küste Hongkongs ist ein weiteres Schiffsunglück im Gang. Der am Samstag in Brand geratene Tanker ist mit 20.000 Tonnen Flüssiggas beladen. An der Küste befindet sich ein Atomkraftwerk.»
Die Bilder des Beitrags zeigten zuerst eine Landkarte mit dem Umriss von China, eingezeichnet die Stadt Hongkong und davor im Meer ein sehr großer gezeichneter Tanker. Dann waren Luftaufnahmen zu sehen des echten Tankers, in Rauchschwaden gehüllt. - Überlegen Sie sich, welchen Film diese Wörter und Bilder im Kopfkino auslösen, wenn wir beim Verstehen Kohärenz herstellen und die Lücken zwischen dem Gesagten füllen mit Ausschnitten aus unserer Welterfahrung.
- So etwa entwickelt sich der Film im Kopfkino, wenn wir, aus unserer Welterfahrung mit Gas und Explosionen, die Brückenbogen zwischen den Pfeilern ergänzen:
- Direkt neben China brennt ein riesengroßer Tanker im Meer. Es raucht gewaltig. Da ist also Feuer – und Gas! Der Tanker hat ganz viel Flüssiggas geladen, das bekanntlich hochexplosiv ist. Dieses Gas wird nun sicher Feuer fangen und der Tanker explodieren – und dies so nah an einem Atomkraftwerk. Zweifellos droht nun eine Havarie und damit eine atomare Katastrophe.
Aufgabe 3 | Framing: Eindeutig [10']
In der Kommunikation kommen Begriffe nie isoliert vor. Sie sind eingebettet in einen sprachlichen Rahmen und in eine Kommunikationssituation – also in einen Kotext und in einen Kontext. Diese Einbettung bewirkt, dass selbst mehrdeutige Begriffe in einem konkreten Verwendungszusammenhang oft eindeutig scheinen. Dazu die Übung Eindeutig:
- Denken Sie sich zwei Situationen aus, in denen der Begriff Schwester unterschiedlich verstanden werden muss.
- Machen Sie nun das Gleiche mit den Begriffen WAGEN und SINGEN. Worin besteht der grundsätzliche Unterschied dieser beiden Beispiele zum Begriff Schwester?
- Finden Sie selbst je ein weiteres Beispiel des Typs Schwester und des Typs WAGEN. Betten Sie die Begriffe in Kotexte und Kontexte ein, in denen sie eindeutig sind.
- Nehmen Sie das Gesundheitswesen oder ein Spital als Kontext, stellen Sie sich bei Schwester eine Krankenpflegerin vor im Kopfkino. Nehmen Sie dagegen ein Familienfest oder einen Erbstreit als Kontext, löst Schwester sicher die Vorstellung von Verwandtschaft aus.
- Ein Wagen ist ein Gefährt, mit dem man durchaus etwas wagen kann. Im ersten Fall ist WAGEN ein Nomen, im zweiten ein Verb im Infinitiv. Das Gleiche gilt für die Ortsbezeichnung Singen und das Verb singen. Bei Schwester dagegen sind beide Formen Nomina.
- Beispiele für Homonyme wie Schwester, also Wörter gleicher Schreibweise und Aussprache, aber unterschiedlicher Bedeutung: Der Arme (ein Mensch) kann seine Arme (ein Körperteil) nicht mehr spüren. Vor der Bank (Geldinstitut) steht eine Bank (Sitzgelegenheit).
- Ein Beispiel für ein Begriffspaar nach dem Muster WAGEN oder SINGEN: Der Topfen als ein Milchprodukt und (um-)topfen als Tätigkeit, bei der eine Pflanze mit ihren Wurzeln in einen Topf versetzt wird, damit sie dort an- und weiterwachsen kann.
Aufgabe 4 | Loftus-Experiment [15']
Erleben Sie im Loftus-Experiment, wie stark Framing das Verstehen und das Erinnern beeinflussen kann:
- In einem bekannten und oft überprüften Experiment von Elizabeth Loftus und John Palmer (1974) sehen zuerst alle Versuchspersonen den gleichen Film: Zwei Autos stoßen zusammen.
- Dann werden die Versuchspersonen in fünf Gruppen aufgeteilt und jede Gruppe wird einzeln gefragt: «Wie schnell fuhren die Autos, als sie x?», wobei für x in jeder Gruppe ein anderes Verb steht: In Gruppe a ist es smashed, in Gruppe b collided, in Gruppe c bumped, in Gruppe d hit und in Gruppe e contacted.
Das durchschnittliche Ergebnis der Schätzungen in jeder dieser Gruppen:
a 65 km/h, b 62 km/h, c 61 km/h, d 54 km/h, e 50 km/h - Wie erklären Sie sich diese unterschiedliche Erinnerung an ein und die gleiche Filmszene?
- Falls Sie in wenig Zeit mehr erfahren wollen dazu, «How language shapes the way we think», gönnen Sie sich diesen TED-Talk von Lera Boroditsky:
- Das Verb löst die Erinnerung an die Szene aus, aber weil wir beim Erinnern den Film im Kopfkino neu zusammensetzen, evoziert ein Verb, das nach härterem Zusammenstoß klingt, eine schnellere Bewegungsvorstellung im Kopf.
- Jede Sprache, die wir sprechen, beeinflusst, wie wir denken.
Aufgabe 5 | Verstehen als Konstruieren: ”Fisch ist Fisch” [10']
Wir bilden, wir konstruieren Kohärenz, indem wir die Lücken im Gelesenen oder Gehörten füllen mit Wissen aus dem eigenen Kopf. Deshalb bestimmt unsere Lebenserfahrung mit, wie wir ein Kommunikationsangebot verstehen. Dazu die Geschichte Fisch ist Fisch von Leo Leonni:
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- In der Geschichte Fisch ist Fisch erklärt der Art Director, Autor und Illustrator Leo Leonni den Konstruktivismus so, dass ihn, wörtlich, jedes Kind versteht.
- Genießen Sie die Geschichte – und erklären Sie dann, warum die Vögel wie Fische gezeichnet sind, bloß mit Flügeln, zwei Beinen und vielen bunten Farben.
- Der Fisch hat immer nur im Teich gelebt und kennt nur fischartige Lebewesen. In seinem Weltwissen sieht alles, was lebt, wie ein Fisch aus. Wenn der Frosch nun Vögel schildert als „sie haben zwei Beine, zwei Flügel und viele, viele bunte Farben“, kann sich der Fisch diese Vögel gar nicht anders vorstellen denn als Fischkörper mit zwei Beinen, zwei Flügeln und vielen bunten Farben.
- Natürlich greift die Geschichte etwas kurz. Wie soll sich der Fisch Flügel vorstellen, wenn er noch nie welche gesehen hat? – Aber das merken die Kinder nicht, wenn sie gebannt der Geschichte lauschen. Und Hand aufs Herz oder sonstwo hin: Haben Sie’s gemerkt?