Back Stage – Blick hinter die Kulissen
Hinter dem, was ist: Sprache, Welt und Wahrnehmung | Daniel Perrin
Thema e Alltagstheorie und Wissenschaft: Von Bäumen und dem ganzen Wald
Aufgabe 1 | Empirie: Die eigenen Sprechwerkzeuge be-greifen [20']
Warum bloß dieser Absatz zum Körpertraining in einem Lehrmittel zu Angewandter Linguistik im Beruf? – Sprachgebrauch setzt den Körper voraus, Kommunikation ist Ganzkörpereinsatz. Tippen am Computer etwa bedingt bewegliche Finger, Hände, und Arme und einen Körper, der so sitzen und sich zwischendurch bewegen kann, dass er sich nicht verspannt. Ohne geschickte Körperführung, die wir allerdings oft unbewusst steuern, schaffen wir diese extrem einseitige Tätigkeit lange, ohne krank zu werden. Und beim Sprechen? Wie ist es da? Dazu die Übung Sprechwerkzeug.
- Halten Sie eine Hand entspannt an Ihren Hals, in die Gegend des Kehlkopfs. Sprechen Sie dann zuerst ein stimmloses S, wie im deutschen Wort Wasser.
- Jetzt sprechen Sie hochdeutsch Susi, mit zwei stimmhaften S. Welchen Unterschied fühlt Ihre Hand beim Sprechen dieser beiden Wörter?
- Investieren Sie 2.3 Minuten Ihres Lebens, um die Stimmbänder, deren Vibration Sie eben erspürt haben, und Ihre weiteren Sprechwerkzeuge kurz kennen zu lernen.
- Stellen Sie dann eine Hypothese dazu auf, wie und warum sich der Körpertonus, also die allgemeine Körperspannung, auf Ihre Sprechweise auswirkt.
- Erklären Sie nun einem Kollegen, einer Kollegin in einer kurzen E-Mail den Begriff und Buchtitel Sprechsport.
https://www.beltz.de/fachmedien/training_coaching_und_beratung/produkte/produkt_produktdetails/27763-sprechsport_mit_aussprache_ausdauer_und_auftrittstraining.html
- Bei Susi vibriert der Kehlkopf, bei Wasser nicht. Sie fühlen das deutlicher, wenn Sie die S künstlich lang sprechen: SSSSSSusssssi, Wassssssser.
- Auch der Stimmtrakt ist Teil des Körpers. Steigt die allgemeine Körperspannung, sind auch die Organe angespannter, die wir brauchen, um Luftdruck aufzubauen und Laute zu bilden.
- Berufliches Sprechen bedingt eine gute körperliche Verfassung und wird ähnlich geübt wie Bewegungsmuster im Sport.
Aufgabe 2 | Alltagstheorie: Redewendungen[10']
Alltagstheorien haben aber auch ihre Grenzen. Vergessen wir nicht: Reden ist Schweigen, Silber ist Gold (oder so ähnlich). – Überlegen Sie in der Übung Holzschnitt, warum Alltagstheorien zwar helfen können, aber nicht immer ausreichen für erfolgreiche berufliche Kommunikation.
- Gelernt ist gelernt. – Suchen Sie ein Beispiel für berufliches Übersetzen, bei dem diese Alltagstheorie aus Ihrer Sicht zutrifft, und eines, bei dem sie zu kurz greift.
- Zu viel ist zu viel. – Finden Sie ein Beispiel aus Ihrer Erfahrung mit Journalismus oder Organisationskommunikation, wo diese Alltagstheorie nicht zutrifft?
- Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. – Sie begleiten Migrantinnen und Migranten dabei, Deutsch als Fremdsprache lebensnah zu lernen. Finden Sie ein Beispiel, das ihnen zeigt, wann reden Gold ist.
- Wer einmal verstanden, dass gute Übersetzungen profundes Wissen aus beiden Sprachkulturen bedingt, wird beim Übersetzen immer auf den kulturellen Kontext achten. Die Hilfsmittel für berufliches Übersetzen dagegen entwickeln sich rasch weiter, was ständiges Weiterlernen erfordert. Dies gilt auch für die sprachlichen Praktiken in Ausgangs- und Zielkultur. Auch sie ändern sich, und auch da will auf dem Laufenden bleiben, wer professionell übersetzt.
- Man kann zwar zu viel Zeit verwenden, um zu überprüfen, ob ein Text richtig und angemessen ist – aber das Ergebnis dieser Arbeit, der fertige Text, kann in den üblichen denkbaren Kontexten von Journalismus oder Organisationskommunikation kaum zu richtig und zu angemessen sein. Ein Gegenbeispiel wäre die gezielte Provokation, wo eine Journalistin oder ein Kommunikator Normen und Erwartungen bewusst verletzen wollen.
- Vor Gericht oder in medizinischen Kontrollen etwa kann es für Migrant*innen von Vorteil sein, Sachverhalte auch dann zur Sprache zu bringen, wenn dadurch in der eigenen Kultur Tabus verletzt würden. Denn: Sind diese Tabus hier nicht bekannt, kommt die Gegenseite im Gespräch nicht von selbst auf die Idee, dass an diesem Ort noch etwas sein könnte, an das man sich nun andeutungsweise herantasten muss im Gespräch.
Aufgabe 3 | Alltagstheorie: Fall Wegweiser [15']
Sich orientieren in Straßendschungel einer Stadt – da ist Schauen aus Distanz besonders gefragt. In unterschiedlichen Kulturen haben sich unterschiedliche Theorien herausgebildet, wie das am besten gelingt. Diese Theorien beeinflussen das Verhalten der Menschen im Alltag, wenn sie einander erklären, wo es lang geht. Finden Sie die Unterschiede im Fall Wegweiser.
- In Japan werden Adressen anders beschrieben als in weiten Teilen Westeuropas. Das hat Auswirkungen etwa darauf, wie die Menschen in diesen Kulturen durch Städte navigieren und einander den Weg beschreiben. Die geografische Alltagstheorie bestimmt das Verhalten.
Überlegen Sie, was das mit der Sentenz tun hat, die zum Schluss des Videos erwähnt wird: «Whatever true thing you can say about India, the opposite is also true».
- Es kommt auf die kulturelle Brille an, mit der man einen Gegenstand betrachtet und dadurch im Kopf konstruiert. Ein und dieselbe Sache in der Welt an sich ist in der Welt für dich nicht das Gleiche wie in der Welt für mich. Das zeigt sich zum Beispiel eben in unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen, die Architektur von Städten zu verstehen, durch Städte zu navigieren und sich über diese Navigation mit anderen auszutauschen.
Aufgabe 4 | Hypothese: ”Desserts” [10']
Unbewusst überprüfen wir unsere Alltagstheorien ständig, indem wir daraus Hypothesen für unser Handeln ableiten. Das hilft uns, angemessene Erwartungen an die Zukunft aufzubauen und uns in der Gegenwart angemessen zu verhalten. Verhält sich die Welt dann einmal deutlich anders, als wir es aufgrund der Alltagstheorie der abgeleiteten Hypothesen erwartet hätten, sind wir erstaunt bis überfordert. Damit spielt der Kurzfilm Desserts von Jeff Stark. Gönnen Sie sich den Schock einer völlig überraschend widerlegten Hypothese:
- Schauen Sie sich den Kurzfilm Desserts von Jeff Stark an, zuerst nur den Vorspann und den Anfang, bis Zeitpunkt 1:36:
- Welche Erwartung bauen Sie auf, welche Hypothesen zu Fortsetzung und Ende des Films laden Sie, unbewusst, im Kopfkino?
- Dann schauen Sie den Film zu Ende. Zu welchem Zeitpunkt bricht der Film Ihre Erwartung? Und wie lässt er Sie zurück?
- Mit etwas Abstand zum Schock: Welche Hypothesen zum Zusammenhang von Mensch und Natur kommen Ihnen in den Sinn?
- Sind diese Hypothesen übertragbar auf den Zusammenhang von menschlichem Tun und Natur in größerem Rahmen?
- Alle möglichen, aber kaum die, dass hier die Erfahrung von Mensch angelt Fisch ins Gegenteil gekehrt wird.
- Das Dessert scheint an einer bisher versteckten Strippe zu hängen, die aus dem Sand emporschnellt. Surreal, aber deutlich erkennbar.
- Der Mensch denkt, er dominiere die Natur. Vermutlich ist es aber umgekehrt, und da könnten noch ein paar Überraschungen auf uns zukommen.
- Pandemien und Klimawandel kommen, obwohl längst angewarnt, für viele überraschend und überwältigend, wie das Geangelt-Werden im Film.
Aufgabe 5 | Theorie: Labov-Experiment [10']
Am wesentlichen Ort hinschauen und dann die Erfahrungen aus der Wirklichkeit überlegt verallgemeinern, so bilden wir Theorien, im Alltag wie in der Wissenschaft. In der Wissenschaft tun wir dies methodisch überlegt und begründbar. Wissenschaftliches Beobachten der Wirklichkeit – Empirie – geht also systematisch vor. Dazu finden Sie hier das Labov-Experiment:
- Lesen Sie sich kurz ein ins Warenhaus-Experiment, das William Labov in New York durchführte, um herauszufinden, wie sich sozialer Status im Sprachgebrauch spiegelt:
https://www.studysmarter.co.uk/explanations/english/language-and-social-groups/labov-new-york-department-store-study/ - Fassen Sie die Grundüberlegungen Labovs zusammen: Was genau hat die Leute gefragt, warum dies, in welchen Warenhäusern, und mit welchem Ergebnis?
- Was ist nun an diesem Experiment das Empirische, also inwiefern wurde hier eine Hypothese an Daten aus dem prallen Leben erzeugt und/oder überprüft?
- William Labov unterscheidet Warenhäuser, deren Angebot sich an unterschiedliche Kaufkraftklassen und damit soziale Schichten richtet. An jedem dieser Orte bringt er die Kund*innen in kurzen Interviews dazu, die Kollokation fourth floor zu sprechen. Dann zeigt er, dass die Art, wie das r artikuliert wird, von der sozialen Schicht abhängt.
- Sprache spiegelt also soziale Schicht, und dies sogar auf der Ebene der Lautbildung. Diese Hypothese hat Labov überprüft und weiter gefestigt an Orten, wo die Schicht aufgrund äußerer Einflüsse – Preise und Prestige der angebotenen Waren – unter sich ist. Die empirischen Daten sind die aufgezeichneten Lautvarianten in den Auskünften der befragten Leute, zu den Metadaten zählt der Aufzeichnungsort, also das Warenhaus mit seinem gesellschaftlichen Status.