Sprache und Zukunft
Tempora mutantur, nos et mutamur in illis: Sprachwandel | Christiane Hohenstein
Thema b Gendergerechte und inklusive Sprache: Weshalb das?
Aufgabe 1 | Gleichstellung: Sind Experten immer männlich? [10']
Gleichstellung ist nicht nur ein rechtliches und politisches Anliegen, sie findet ganz wesentlich sprachlich-kommunikativ statt. Eine gendergerechte, inklusive Sprache dient dazu, diskriminierungsfrei alle Personen als Teil der Gesellschaft zu benennen und sichtbar zu machen. Wie können einzelne Formulierungen der Gleichstellung dienen und Vorstellungen über die gesellschaftliche Realität prägen und verändern? Lesen Sie dazu bitte das folgende Beispiel, das als Fußnote in eine wissenschaftliche Arbeit eingefügt wurde:
"Die Verfasserin hat eine genderneutrale Sprache verwendet. Lediglich beim Begriff Expert*in hat sie im Sinne der Lesbarkeit nur die männliche Form verwendet. Gemeint sind alle Gender."
Was spricht dagegen, diese Lösung zu verwenden?
Orientieren Sie sich zu Argumenten z.B. unter
https://www.mentorium.de/warum-gendern-wichtig-ist/ [29.04.2022]
Es ist erwiesen, dass Männer und Frauen gleichermaßen sich überwiegend männliche Personen vorstellen, wenn nur die männliche Personenbezeichnung genannt wird. Überprüfen lässt sich das leicht, wenn man z.B. Personen folgenden Satz vorlegt: "Ein Wissenschaftler hat in Neu-Guinea eine bislang unbekannte Vogelart entdeckt." – Die meisten Menschen stellen sich einen Mann vor.
Damit Frauen auch als Expertinnen sichtbar werden, ist es wichtig, die männliche und die weibliche Form jeweils angemessen zu verwenden. Wenn man von der Bedeutung des Geschlechts für die Expertise absehen möchte, ist es empfehlenswert, eine inklusive Kurzform zu verwenden (z.B. Expert:innen) oder von "Befragten/Personen mit einer Expertise" zu sprechen.
Gerade wenn es darum geht, Expertinnen und Experten zu befragen und ihre Aussagen für eine wissenschaftliche Arbeit auszuwerten, kann das Geschlecht aber ein Faktor sein, der auch die professionelle Erfahrung und die Sicht auf eine Problematik mit bestimmt. Es sollte daher im Sinne einer redlichen Wissenschaft offengelegt werden, ob es sich um eine Expertin oder einen Experten handelte, deren Aussage zitiert wird.
Aufgabe 2 | Sprachpolitisches Ziel: Gendergerecht und inklusiv [10']
Im gesellschaftlichen Diskurs finden sich Positionen, die die rechtlichen und politischen Anliegen der barrierefreien Kommunikation und der gendergerechten Sprache gegeneinander ausspielen wollen. Erarbeiten Sie mit dieser Übung, warum es kein Entweder–Oder geben kann. Bitte lesen Sie den folgenden Ausschnitt aus: GENDER-GERECHTE SPRACHE UND BARRIEREFREIHEIT, http://www.netz-barrierefrei.de/wordpress/barrierefreies-internet/barrierefreie-redaktion/texte/gender-gerechte-sprache-und-barrierefreiheit/ [24.08.20]:
"In letzter Zeit werde ich häufig gefragt, ob gendergerechte Sprache generell barrierefrei ist. Hier meine Antwort. Ob eine gendergerechte Sprache sinnvoll ist, möchte ich hier nicht diskutieren. Lassen Sie mich vorneweg das Fazit ziehen: Da jede denkbare Variante bei Text und Sprache gängige Konventionen verändern muss, trägt keine mögliche Variante in unserem Sinne zur Barrierefreiheit bei. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Betroffenen-Gruppen auf eine für alle Seiten akzeptable Variante einigen, das ist aber aktuell nicht absehbar.
Aktuell halte ich den Doppelpunkt für die beste Variante für blinde Personen. Der Doppelpunkt wird in der Standard-Konfiguration der gängigen Screenreader ignoriert, also nicht vorgelesen.
Wir gehen von Personen aus, die nicht täglich mit gendergerechten Texten zu tun haben. Fangen wir mit den Varianten an, die aus Sicht der Barrierefreiheit nicht optimal sind. [...]"
- Welche Position wird in dem Text vertreten?
- Leiten Sie aus Thesen und Aussagen des Textes eine Argumentation für inklusive, barrierefreie und zugleich genderechte Schreibweise ab!
a. Der Text vermittelt auf den ersten Blick eine ausgeglichene Position, inszeniert eine vermeintliche Neutralität. An verschiedenen Aussagen wird aber deutlich, dass die Grundhaltung gegen gendergerechte Sprache gerichtet ist und der barrierefreien Sprache eine höhere Priorität eingeräumt wird. Das wird z.B. daran deutlich, dass die Frage, ob gendergerechte Sprache generell barrierefrei sei, gar nicht beantwortet wird. Statt dessen wird der Sinn von gendergerechten Formulierungen überhaupt in Frage gestellt. Der Satz "Ob eine gendergerechte Sprache sinnvoll ist, möchte ich hier nicht diskutieren" tut zwar so, als solle darüber keine Diskussion eröffnet werden, durch die indirekte Frage nach dem Sinn ist genau dies aber thematisiert und damit zu einem Diskussionsgegenstand gemacht worden.Die Aussage "Da jede denkbare Variante bei Text und Sprache gängige Konventionen verändern muss, trägt keine mögliche Variante in unserem Sinne zur Barrierefreiheit bei" postuliert (mit "da") einen nicht belegten, wissenschaftlich nicht nachweisbaren Begründungszusammenhang. Weder ist "jede denkbare Variante" eine faktische Menge, von der auf jegliche mögliche Variante geschlossen werden kann, noch ist das Verändern von "gängigen Konventionen" grundsätzlich nicht barrierefrei. Im Gegenteil: für Barrierefreiheit müssen ggf. auch sprachliche Regeln und Konventionen angepasst werden. Besonders deutlich wird dies an den Regeln der Einfachen Sprache.
Dieser – nicht valide – Begründungszusammenhang dient dazu, die Möglichkeit einer gendergerechten und barrierefreien Schreibweise prinzipiell abzustreiten.
b. Einige Aussagen in dem Text sind mehr oder weniger diskriminierend, z.B die Aussage: "Es wäre wünschenswert, wenn sich die Betroffenen-Gruppen auf eine für alle Seiten akzeptable Variante einigen, das ist aber aktuell nicht absehbar" unterstellt zum einen den "Betroffenen-Gruppen" eine Unfähigkeit zu einem rationalen oder pragmatischen Konsens; zum anderen verlagert sie eine gesamtgesellschaftliche Problematik in die spezielle Verantwortlichkeit einer unterbestimmt bleibenden "Betroffenen-Gruppe", die so stereotypisiert, alterisiert wird.
An diesem Argument kann mit einer sachlichen Argumentation angesetzt werden, dass Sprache für alle Sprechenden und Schreibenden gleichermaßen handhabbar sein muss und zugleich muss sie diskriminierungsfrei und repräsentativ für die gesamte Gesellschaft sein, es ist also kein Sonderproblem von einzelnen "Betroffenen-Gruppen", die sich einigen müssten.
Das im Text für den Doppelpunkt genannte Argument: "Der Doppelpunkt wird in der Standard-Konfiguration der gängigen Screenreader ignoriert, also nicht vorgelesen" ignoriert zugleich die Bedeutung des zusätzlichen Zeichens im Wort, das nur für etwas stehen kann, wenn es auch bemerkbar wird, sei es beim Lesen oder beim Hören (durch den Glottisschlag vor der femininen Endung, der in der gendergerechten Sprechweise gemacht wird). Es tilgt also das Anliegen der gendergerechten Sprache gewissermaßen mit dem Lösungsvorschlag. Hier kann ein positives Argument hervorheben, wie wichtig auch in der barrierefreien Sprache die gendergerechte Umsetzung ist, weil rein demographisch gut die Hälfte der auf barrierefreie Sprache angewiesenen Personen auch von gendergerechter Sprache profitiert, indem ihre intersektionale Diskriminierung (Mehrfachdiskriminierung z.B. als Mensch mit einer Behinderung und als Frau) sprachlich angemessen reflektiert und verstehbar wird.
Schließlich wird ein Normalitätsargument im Text aufgebracht: "Wir gehen von Personen aus, die nicht täglich mit gendergerechten Texten zu tun haben." Diese Formulierung unterstellt die Alltäglichkeit von nicht gendergerechten Texten als akzeptable Normalität. Das Argument normalisiert damit eine nicht gendergerechte Welt weiter. Es ignoriert zudem, dass die Schweizer Bundesverfassung und das Schweizer Sprachengesetz eine gendergerechte Sprache seit langem vertreten und festgeschrieben haben. Eine Normalisierung von gendergerechter und inklusiver Sprache ist ein erklärtes Ziel in der Schweizer Politik und der Gesellschaft in der Schweiz.
Aufgabe 3 | Kunstgriffe: Geschlechtsneutrales Deutsch [10']
Die Schweizer Autorin Anna Stern hat in einem Roman damit experimentiert, wie es funktionieren könnte, in der deutschen Sprache Romanfiguren ohne spezifische Geschlechtsidentität zu entwickeln. In der Handlung des Romans versucht eine Gruppe befreundeter junger Menschen, den Tod einer Person aus ihrer Mitte zu verarbeiten. In Rückblenden werden Szenen bis zurück in die gemeinsame Kindheit geschildert, während in der erzählten Gegenwart eine Art Roadmovie-Geschichte entsteht.
Lesen Sie den kurzen Ausschnitt aus dem Roman und achten Sie beim Lesen darauf, was bei Ihnen ausgelöst wird. Reflektieren Sie darüber, welche Sprachmittel und Kunstgriffe die Autorin einsetzt, und wie Sie das beim Lesen verarbeiten. Funktioniert es, sich die Personen ungeschlechtlich, nicht gegendert vorzustellen?
(Anna Stern (2020). das alles hier, jetzt. Roman, 2. Auflage. Zürich: Elster & Salis, S. 22–25).
Die Autorin verwendet eine spezielle Schreibweise und Perspektive: der gesamte Text ist in Minuskeln, also Kleinbuchstaben, geschrieben, und aus einer Perspektive des gegenwärtigen Erlebens, in der auf die anderen Figuren mit der Anrede „ihr“ Bezug genommen wird. Dadurch wirkt der Text wie eine fortlaufende innere Rede, in die man beim Lesen hineingezogen wird.
Die Personen haben Namen, die nicht eindeutig auf eine Geschlechtszugehörigkeit schliessen lassen (z. B. eden, avi, swann, egg). Sie werden immer mit dem Namen genannt, sodass keine geschlechtseindeutigen Personalpronomen (er, sie) verwendet werden. Es gibt kein „ich“, vielmehr wird beim Lesen deutlich, dass das „du“ das Ich der erzählenden Person repräsentiert. Das „du“, also das Ich der erzählenden Figur, ist damit zugleich Teil von dem „ihr“.
Es ist schwierig, sich beim Lesen Personen ohne Geschlechtsidentität vorzustellen. Beim Lesen kann es passieren, dass man sich eben doch gegenderte Personen vorstellt, dass anhand von bestimmten Tätigkeiten wie z. B. Schnitzen oder Feuer entfachen eine Vorstellung entsteht, eine Zuordnung versucht wird. Aber sobald man darüber nachdenkt und merkt, dass man versucht, eine Figur geschlechtlich einzuordnen, fühlt man sich ertappt: hier sind Geschlechter-Stereotype am Werk (von denen man vielleicht glaubte, dass man sie nicht hätte).
Mit diesen Kunstgriffen entzieht es sich immer wieder, eine Figur mit Bestimmtheit in die binären Geschlechterkategorien einzuordnen. Zugleich wird in der Reflexion greifbar, wie sehr Stereotype als kognitive Ordnungsschemata am Arbeiten sind, trotz einer sprachlichen Neutralisierung.
Deutlich wird an diesem Beispiel einerseits, dass viel sprachliche Arbeit und Anstrengung erforderlich ist, um Stereotype zu unterlaufen; andererseits zeigt sich daran, dass ein kreativer professioneller Umgang mit dem Deutschen geschlechtsneutrale Möglichkeiten des Ausdrucks eröffnen und dabei neue, ungewohnte Denkprozesse anstossen kann.