Die Praxis in Sprachberufen untersuchen
Die Essenz erzählen: Fallstudien nutzbar machen | Prof. Dr. Daniel Perrin
Thema d Möglichkeiten und Grenzen: Aufzeigen, was die Fallstudie nicht leistet
Aufgabe 1 | Perspektive: Zurück zum Erfinden [10']
Die Daten aus Thema b, Aufgabe 2 kommen hier nochmal zur Sprache. Aus welcher Perspektive argumentiert der Journalist, wenn er in einem grundsätzlichen Gespräch zu seiner Rolle und seinem Arbeitsplatz sagt, man richte sich hier an eine anspruchsvolle Leserschaft und Infotainment werde abgelehnt? Und aus welcher Perspektive argumentiert er, wenn er beim Beobachten seines aufgezeichneten Textproduktionsprozesses zu Protokoll gibt, er habe hier jetzt eben ein Zitat erfunden, als Stilmittel?
0397 Die Idee ist jetzt gewesen, 0398 dass ich jemanden das sagen lasse. 0399 Das ist jetzt nicht mehr so gut, 0400 weil es ist erfunden, <er kämpft>. 0401 Das ist etwas, das sie hätte sagen können oder aber auch nicht. 0402 Das ist noch nicht so befriedigend. 0403 Es ist natürlich ein Stilmittel, eine Frage einzubauen.
Wenn sich der Journalist in einem grundsätzlichen Gespräch gegen Infotainment ausspricht, also für Information pur, gibt er einen klassischen Leitsatz aus dem Nachrichtenjournalismus wieder, den sehr viele Journalist*innen grundsätzlich für sich, ihr Medium und ihren Beruf in Anspruch nehmen. Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, lautet eine Verdingung dieses berufsethischen Grundsatzes. Solche Grundsätze gibt es für viele Berufe.
Die Praxis sieht dann oft weniger strikt aus. Dass ein Journalist Quote geradezu erfindet, wird im Beruf nicht gerne gesehen, kommt aber vor. Bemerkenswert ist, dass er in dem Augenblick, wo er in der Bildaufzeichnung seines Textproduktionsprozesses sieht, wie er ein Quote konstruiert, dies auch gleich zu Protokoll gibt. Das ist eine der interessanten Seite der Methode der ereignisgestützten retrospektiven Verbalisierung. Man sieht sich selber beim Handeln zu, was ein Fenster in die Erinnerung öffnet und zugleich den inneren Zensor ein Stück weit ausschaltet. Diesen Effekt macht sich die Progressionsanalyse zunutze (s.u., Aufgabe 2).
Aufgabe 2 | Mehrmethodenansatz: Progressionsanalyse [10']
Die Daten zum Fall aus der Aufgabe 1 wurden aufgezeichnet mit der Progressionsanalyse. Sie nutzt drei Methoden, den Gegenstand aus drei Perspektiven zu erfassen, die einander ergänzen: computergestützte Beobachtung, ethnographische Feldnotizen und ereignisgestütztes retrospektives Verbalprotokoll. Welche der Beschreibungen unten passt zu welcher Methode?
The first level of progression analysis investigates the writers and the writing situation. Considerations include the writers’ professional socialization and economic, institutional, and technological aspects of the work situation as well as the specific writing task that the writers aim to accomplish. Data on the writers’ self-perceptions are obtained in semi-standardized interviews that focus on writers’ activity, professional experience, and workplaces. Researchers collect ethnographic data through unstructured participatory observations of organizational practices as well as interviews about them. Findings on this level include, for example, writers’ general language awareness in the area of coherence problems.
The second level of progression analysis records every keystroke and writing movement in the emerging text with programs that run in the background (behind the text editors that the writers usually use, for instance, behind the user interfaces of their company’s editing systems). The recording can follow the writing process over several workstations and does not influence the performance of the editing system or the writer. The computer recordings provide information about what writers do during the text production process, with every movement and revision step representing intermediate text versions in the writing process. Findings on this level can reveal, for example, the writing activities that result in a specific text coherence problem.
The third level of progression analysis, the sociocognitive conceptualization or reconstruction, draws on verbal data to infer the mental structures that might have guided the writing activities observed on the second level. After finishing a text production process, writers view a playback of their process and watch as their text emerges. While doing so, they are prompted to comment continuously on what they did while writing. An audio recording is made of this verbalization, and the recording is transcribed in a cue-based retrospective verbal protocol (RVP). The RVP is then encoded with respect to aspects of language awareness, writing strategies, and conscious practices. Findings on this level can provide insights into, for example, writers’ decisions that resulted in a coherence problem in their texts.
In sum, progression analysis enables researchers to consider the multilayered context of a production process; to trace the development of the emerging text; and, finally, to reconstruct the writers’ considerations from different perspectives. The three levels of progression analysis allow the strategies and practices that writers articulate in their cue-based retrospective verbalizations to be placed in relation to the situational analysis and the data from the computer recordings. Characteristics such as coherence problems in final texts become understandable as resulting from complex situated activity in dynamic contexts.
Und: Welche Methodenverbindung hat zu den Daten aus Aufgabe 1 geführt, die einen Widerspruch im Gegenstand selbst aufzeigen? Was wäre also verloren gegangen, hätten die Forschenden in dieser Fallstudie nur mit einer einzigen Methode gearbeitet?
Die Progressionsanalyse arbeitet auf der ersten Ebene mit ethnographische Feldnotizen, auf der zweiten mit computergestützter Beobachtung und auf der dritten mit dem ereignisgestützten retrospektiven Verbalprotokoll (s.o., Aufgabe 1).
Die Daten aus Aufgabe 1 wurden mit allen drei Methoden erhoben. In den ethnographischen Feldnotizen ist das grundsätzliche Gespräch vermerkt, in dem sich der Journalist gegen Infotainment in seinen Texten ausspricht. Die computergestützte Beobachtung zeigt, wie er, Schritt für Schritt und mit vielen Änderungen, eine Äußerung konstruiert, die er dann einem Textrollenträger als Quote zuweist. Das ereignisgestützte retrospektive Verbalprotokoll hält den Kommentar fest, den der Journalist zu dieser Baustelle abgibt, als er den Film seines Textproduktionsprozesses sieht und dabei der Konstruktion des Quotes zuschaut.
Aufgabe 3 | Stärken und Schwächen von Fallstudien: Der dünne Vorhang [20']
Eine Bachelor-Arbeit untersucht die Kommunikation des Kabinenpersonals einer Ferienfluggesellschaft und fokussiert auf die Unterschiede zwischen Economy- und Business-Klasse. Der Titel der Arbeit: „Der dünne Vorhang, der Welten trennt: Klassenkommunikation am Beispiel einer Ferienfluggesellschaft”.
Die letzten fünf Absätze der Arbeit finden Sie unten einkopiert. Welche typischen Stärken und Schwächen einer transdisziplinären Fallstudie werden hier angesprochen? Und welche narrativen Elemente schienen auf?
Ziel der Arbeit an der Schnittstelle zu den PAX soll also sein, dass die Kommunikation das Selbstwertgefühl der PAX [= Passagiere) stärkt und nicht schwächt – unabhängig von der Klasse mit ihren je eigenen ökonomischen Möglichkeiten und logistischen Handlungsspielräumen. Die Analyse hat an Rich Points aus zwei Jahren Praxiserfahrung als CM [= Cabin Crew Member] gezeigt, dass ein solches Ideal in der Praxis sowohl eine erhebliche Herausforderung darstellt als auch leistbar ist.
In anderen Berufsfeldern und Arbeitsplätzen wie dem Call Center […] hat sich gezeigt, dass durch die Reflexion von Sprachhandlungen an konkreten Beispielen die Fähigkeit der Gesprächsführenden steigt, kritische Situationen wahrzunehmen, unüberlegten Gesprächsbeiträgen vorzubeugen und gute Praktiken einzusetzen – und mit der Zeit sogar selber weiterzuentwickeln. Dass das für das Social Setting der Kabine in den beiden Klassen auch funktioniert, kann hier nur vermutet werden; untersucht wurde es nicht.
Zudem ist die Generalisierbarkeit der Befunde aus der Analyse stark begrenzt, und zwar durch drei Faktoren: erstens den zeitlichen Rahmen einer Bachelorarbeit, zweitens den explorativen Forschungsrahmen der Ethnografie und drittens die Subjektivität der Au-toethnographie. Allerdings kann Generalisierbarkeit auch nicht das Ziel sein. Es ging darum, an Beispielen Wesentliches zu zeigen, als Exploration, als Ausgangspunkt für weitere Schritte.
Nach Abschluss des Bewertungsprozesses und unter Berücksichtigung des eingeholten Feedbacks wird die Autorin deshalb, in Absprache mit der Betreuerin, die Möglichkeit prüfen, die Arbeit mit der Kommunikationsabteilung der Holiday Air zu besprechen. In einem solchen Gespräch kann sich zeigen, ob die Fluggesellschaft an breiterer Forschung und an einem Ausbau von Gesprächsschulung zum Thema Klassen und Wertschätzung interessiert ist.
Wenn ja, kann die Arbeit ein kleines Stück beitragen zu einer menschenzentrierteren und wertschätzenderen Kommunikation in der Luftfahrtindustrie. Damit würde sich ein Traum erfüllen, der die Autorin begleitet, seit sie Menschen reden, schweigen und streiten sieht: mit Worten Brücken statt Gräben bauen, mit Sprache Menschen verbinden, mit Zuwendung Panzertüren und dünne Vorhänge öffnen.
Zu den Stärken zählt: Die Arbeit zeigt an Rich Points aus Fallstudien Probleme der klassenspezifischen Kommunikation einer Ferienfluggesellschaft und zugleich auch Lösungsansätze. Zudem verweist sie auf Erfahrungen in einem anderen Feld der Kommunikation, die gezeigt haben, wie sich solche Fallstudien nutzen lassen, um die Praxis zu verbessern. Und schließlich zeigt sie eine Perspektive auf, was weiter geschehen könnte und müsste, um das Problem und die Lösungen noch schärfer zu erfassen.
Zu den Schwächen zählen ein enger Zeitrahmen, ein quantitativ nicht generalisierbares Verfahren (Fallstudien ohne verbindende Grounded Theory) und eine Perspektive, die sehr anspruchsvoll ist, was die ausgewogene Erhebung und Einschätzung der Daten betrifft (Autoethnographie).
Die Narration, die aufscheint in diesem Text, geht zum Beispiel so:
Exposition: Diese Arbeit zeigt Wichtiges zur Klassenkommunikation in der Luft
Komplikation: Allerdings ist das erst ein bescheidener Anfang.
Evaluation: Die Forschungsfrage ist aber wichtig, Weiterforschen würde sich lohnen.
Resolution: Erste Schritte dafür sind bereits angedacht und vorbereitet.
Koda: Dies könnte nicht nur in der Luft nützten, sondern in der Welt überhaupt.
Aufgabe 4 | Stärken und Schwächen von Fallstudien: Biomed und Syrien, final cut [20']
Sie schreiben die letzten Absätze eines Berichts zur Fallstudie Biomed oder Syrien. Beide Fallstudien haben nur einen Fall untersucht: die Kommunikationsabteilung eines Medikamentenherstellers oder die Zusammenarbeit der Journalist*innen einer Redaktion mit Übersetzer*innen. Entscheiden Sie sich für einen der beiden Fälle: Welche Stärken und Schwächen kommen in Ihren letzten Absätzen zur Sprache?
Es sind in jedem Fall die typischen Stärken und Schwächen von Fallstudien: sie gehen in die Tiefe, reicht aber eben nicht über einen Fall hinaus, sind also im statistischen Sinn nicht verallgemeinerbar (wohl aber über den Weg der Grounded Theory mit Theoretical Sampling). Zu den Stärken zählen kann zudem eine präzise, griffige und anschauliche Narration; zu den Schwächen eine Darstellung, die diese Chancen verpasst.