Front Stage – Blick auf die Kulissen
Mit Sprache unterwegs: Mehrsprachigkeit | Patrick Studer
Thema a Mehrsprachigkeit als Kompetenz: Schlüssel zur Welt
Aufgabe 1 | Zweisprachigkeit: Wie es dazu kommt [10']
Aufgabe 1 | Zweisprachigkeit: Wie es dazu kommt [10']
Welchen der folgenden Aussagen zur Mehrsprachigkeit stimmen Sie zu?
- Zweisprachig sind nur Menschen, die zwei Sprachen gleich gut beherrschen.
- Wenn man eine Sprache in der Schule lernt, spricht man von Spracherwerb.
- Ein Mensch kann gleichzeitig zwei Erstsprachen erwerben.
- Spricht ein Kleinkind in Zürich zuhause französisch, ist das bilingualer Erstspracherwerb.
Lösung
- Dieser Aussage stimmen wir nicht zu. Der Begriff Zweisprachigkeit bezieht sich nicht nur auf die Vorstellung einer ausgewogenen Zweisprachigkeit, sondern schließt auch Zwischenformen bzw. asymmetrische Zweisprachigkeit mit ein. Auch bei einer hohen Kompetenz in zwei Sprachen und bei frühem Erwerb gibt es immer Spezialwissen und -können in den einzelnen Sprachen.
- Dieser Aussage stimmen wir nicht zu. Der Begriff Spracherwerb bezieht sich vorwiegend auf natürlichen, ungesteuerten Spracherwerb. Im schulischen Umfeld werden Sprachen gesteuert nach einem Lehrplan erlernt, nicht erworben.
- Wir stimmen dieser Aussage zu. Es ist denkbar, dass ein Kleinkind mehr als einer Sprache in vergleichbarer Intensität ausgesetzt ist. Dies kann zu ausgewogener Zweisprachigkeit führen. Der Regelfall ist jedoch eine asymmetrische Zweisprachigkeit (siehe Antwort a).
- Wir stimmen dieser Aussage nicht zu. Die Voraussetzung zu bilingualem Erstspracherwerb ist die Intensität des Sprachangebots und die Nähe zu den Bezugspersonen (Familie oder familienähnliche Betreuungspersonen). Im beschriebenen Szenario werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt.
Aufgabe 2 | Lebensszenarien: Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache [5']
Aufgabe 2 | Lebensszenarien: Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache [5']
Was trifft am besten auf ein Kind zu, das bis zum dritten Lebensjahr mit Französisch (Mutter) und Englisch (Vater) aufwächst und anschließend in eine deutschsprachige Schule geht?
- Bilingualer Erstspracherwerb (Französisch, Englisch) mit Deutsch als Zweitsprache
- Bilingualer Erstspracherwerb mit Französisch, Englisch und Deutsch als Erstsprachen
- Bilingualer Erstspracherwerb mit F als Muttersprache sowie E und D als Zweitsprachen
- Bilingualer Erstspracherwerb mit F als Muttersprache sowie E und D als Fremdsprachen
Lösung
- Szenario a trifft am besten auf die beschriebene Person zu. Deutsch fungiert als Umgebungssprache (L2), wohingegen Französisch und Englisch das erstsprachliche Repertoire der Person ausmachen. Die Interpretation dieses Falls hängt auch von der Art und Intensität des Sprachangebots sowie von der Nähe zu den Bezugspersonen ab.
Aufgabe 3 | Standarddeutsch: Zweit- oder Erstsprache? [15']
Aufgabe 3 | Standarddeutsch: Zweit- oder Erstsprache? [15']
Überlegen Sie, warum L1-Sprechende von schweizerdeutschen Dialekten Standarddeutsch gerne als ihre L2 bezeichnen.
Lösung
- Haben Sie über die Nähe der schweizerdeutschen Dialekte zum Standarddeutsch nachgedacht? Auf welchen Ebenen lässt sich die Nähe / lassen sich die Unterschiede beschreiben? Finden Sie Beispiele?
- Haben Sie über die Art der Diglossie in der Deutschschweiz nachgedacht? Wann verwendet man Dialekt, wann Standarddeutsch?
- Haben Sie über die soziale Funktion des Dialekts in der Deutschschweiz nachgedacht?
- Typologische Unterschiede und Gemeinsamkeiten lassen sich auf allen Ebenen finden. Da der Dialekt nicht unterrichtlich gelehrt und gelernt wird, beschränkt sich die Verschriftlichung des Dialekts mehrheitlich auf informelle Kontexte. Entsprechend fehlt auch ein übergeordneter Standard. Mündlich kann der Dialekt auch in formellen Kontexten verwendet werden. Die Frage, ob der Dialekt eine eigenständige Sprache ist, ist nur bedingt an die Distanz zwischen zwei Varietäten geknüpft, sondern hängt vom Sprachbewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher ab. In der Deutschschweiz hat der Dialekt eine stark identitätsbildende Funktion.
Aufgabe 4 | Ethnolekte: Gömmer Starbucks [30']
Aufgabe 4 | Ethnolekte: Gömmer Starbucks [30']
Was ist ein Ethnolekt?
«Ein Ethnolekt ist eine Sprechweise (Stil), die von den Sprechern selbst und / oder von anderen mit einer oder mehreren nicht-deutschen ethnischen Gruppen assoziiert wird. Anders als im Falle der bekannten lexikalischen Innovationen der sog. Jugendsprache betrifft er im vorliegenden Fall (auch) die Grammatik» (Auer, 2003, 256).
«Der neue Ethnolekt tritt in verschiedenen Formen auf: als primärer Ethnolekt, der in den deutschen Großstadt-‹Ghettos› entstanden ist und vor allem von männlichen Jugendlichen mit türkischem Familienhintergrund verwendet wird, die in Deutschland aufgewachsen sind. Dieser primäre Ethnolekt ist der Bezugspunkt für einen sekundären, medial transformierten Ethnolekt, der von (fast ausschließlich) deutschen Medienmachern in Filmen, Comedies, Comics, Zeitungsartikeln u.a. eingesetzt wird, die ihn einer bestimmten Gruppe von (v.a.) männlichen türkischen und anderen nicht-deutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zuschreiben. Die mediale Verwendung des Ethnolekts impliziert immer die Usurpierung des primären Ethnolekts durch Personen, denen er nicht ‹gehört›; er ist deshalb ein Akt der Transgression (…). Der sekundäre Ethnolekt wird nun seinerseits von (wiederum v.a. männlichen) deutschen Jugendlichen in Versatzstücken zitiert und weiterentwickelt. Wo dies nicht direkt aus dem Kontakt mit türkischen oder anderen nicht-deutschen Jugendlichen geschieht, sondern lediglich der mediale Input transformiert wird, kann man von einem tertiären Ethnolekt sprechen. Die Beziehung zwischen primärem, sekundärem und tertiärem Ethnolekt entspricht dem von Androutsopoulos (2000) beschriebenen Weg ‹from the streets to the screens and back again›» (Auer, 2003, 256).
Zum Autor von «Gömmer Starbucks»
Bänz Friedli, 1965 in Bern geboren, ist Autor und Kabarettist und lebt in Zürich. Gömmer Starbucks? Bänz Friedli macht sich einen Reim auf die Jugend (2013) ist eines der bekanntesten Kabarettstücke von Bänz Friedli.
Auftrag
(Für diese Übung lohnt sich der Austausch in einer Gruppe. Halten Sie Ihre Erkenntnisse in einem Kurzprotokoll fest.)
-
- Schauen Sie sich den folgenden Ausschnitt aus der DVD «Gömmer Starbucks?» von Bänz Friedli, live im Casinotheater Winterthur, an.
- Ordnen Sie anschließend das Thema Ethnolekt dem Kapitel Mehrsprachigkeit als Kompetenz: Schlüssel zur Welt zu. Um welche Form der Mehrsprachigkeit handelt es sich? Sind Ethnolekte Ausdruck einer mehrsprachigen Kompetenz?
- Diskutieren Sie die Darbietung von Bänz Friedli kritisch. Welche Pointe macht der Kabarettist?
- Abschließend tauschen Sie sich mit anderen zu Ihren eigenen Erfahrungen mit Ethnolekten aus. Wo haben Sie selber Ethnolekte angetroffen oder verwendet?
Lösung
- Zu 2: Der Ethnolekt bildet Teil der inneren Mehrsprachigkeit einer Sprache. Ein Ethnolekt ist – wie zum Beispiel der Dialekt – Bestandteil einer natürlichen Sprache. Er ist jedoch nicht ursächlich an einen Ort gebunden, sondern an eine Gruppe von Sprechenden (z.B. Jugendliche). Der Ethnolekt kann – je nach kommunikativen Konventionen einer Gesellschaft – als Ausdruck einer soziolinguistischen und pragmatischen Kompetenz betrachtet werden. Dabei geht es um die Fähigkeit, sich innerhalb einer Gruppe angemessen und sinnvoll ausdrücken zu können. Die Grammatik einer Sprache spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
- Zu 3: Bänz Friedli bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Bewunderung und Kritik am Ethnolekt. Er verbindet den Ethnolekt mit der Jugendsprache. Jugendsprache wiederum steht für Innovation, für das Brechen von Regeln und Erproben von neuen Kommunikationsformen. Bänz Friedli zeigt sich in der Darbietung einerseits solidarisch mit den Jugendlichen, die den Ethnolekt gebrauchen, und kritisiert gleichzeitig die sprachkonservative Haltung der älteren Generation. Indem er aber den Ethnolekt stark überzeichnet, ist auch eine Kritik an dem durch Migration entstehenden Sprachwandel erkennbar.
Aufgabe 5 | Sprachkompetenz: Von grammatisch bis soziolinguistisch [10']
Aufgabe 5 | Sprachkompetenz: Von grammatisch bis soziolinguistisch [10']
Welchen der folgenden Aussagen zum Thema Sprachkompetenz stimmen Sie zu?
- Wenn ich in einer Sprache einen Komparativ bilden kann (Peter ist größer als Maria), dann verfüge ich über soziolinguistische Sprachkompetenz.
- Wenn ich mit Freundinnen Dialekt, aber mit meinen Dozierenden Standarddeutsch spreche, dann verfüge ich über grammatische Sprachkompetenz.
- Wenn ich eine Geschichte der Reihe nach sinnvoll erzählen kann, dann verfüge ich über textgrammatische Sprachkompetenz.
- Wenn ich mit einem Unbekannten aus Norddeutschland Dialekt spreche, dann verfüge ich über soziolinguistische Kompetenz.
Lösung
- Diese Aussage ist falsch. Sprachwissen zu allgemeinem Vokabular, Morphologie, Syntax und Phonologie/Graphologie fällt unter grammatische Kompetenz.
- Diese Aussage ist ebenfalls falsch. Hier zeigt die Sprecherin eine soziolinguistische Kompetenz. Soziolinguistische Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, unser kommunikatives Repertoire in bestimmten Situationen so zu aktivieren und umzusetzen, dass Kommunikation bei Adressaten zu Erfolg führt. Die soziale Angemessenheit des Sprachgebrauchs variiert von Situation zu Situation und bedingt Sensibilität gegenüber Varietäten und gegenüber Register.
- Diese Aussage ist richtig. Textgrammatische Kompetenz bezieht sich auf Wissen, wie man Äußerungen zu Texten verknüpft (mittels Kohäsion, rhetorischer Organisation, logischem Gedankenaufbau). Ein Beispiel dazu ist ein linearer Aufbau einer Geschichte (Zuerst gingen wir nach Zürich, dann nahmen wir den Zug nach Winterthur und anschließend fuhren wir nach Schaffhausen …)
- Diese Aussage trifft nicht zu. Im geschilderten Fall verfügen wir gerade nicht über soziolinguistische Kompetenz, da wir gegen soziale Erwartungen verstoßen. Der Verstoß kann natürlich auch gewollt sein.