Back Stage – Blick hinter die Kulissen
Hinter dem, was ist: Sprache, Welt und Wahrnehmung | Daniel Perrin
Thema g Neuro, psycho- und soziolinguistische Ansätze: Mein Werkzeugkasten für Studium und Beruf
Aufgabe 1 | Künstliche Intelligenz: Zum Diktat [20']
Künstliche Intelligenz kann auch Sprache – und auch da beruhen Entscheidungen auf großen Mengen von Daten, in denen die Maschine Muster erkennt. Erleben Sie das in der Übung Zum Diktat:
- Nutzen Sie die Möglichkeit, Ihrem Computer einen Text zu diktieren. Sprechen Sie ganze Sätze. Beobachten Sie, wie sich der diktierte Text am Bildschirm verändert, während Sie sprechen.
- Stellen Sie Hypothesen dazu auf, warum sich dieser Text laufend verändert, während Sie Ihre Sätze zu Ende sprechen beim Diktieren.
- Stellen Sie ebenfalls Hypothesen dazu auf, warum der Computer einige Wendungen besser versteht, andere dagegen kaum oder gar nicht.
- Beim Diktieren bringen wir die Luft zum Schwingen. Der Computer analysiert die aufgenommenen Schwingungsverläufe, zerlegt sie in Einheiten und ordnet den Einheiten möglichst passende Wörter zu. Bei dieser Musteranalyse bezieht er den Ko-Text der Einheiten mit ein: Mit jeder neuen Schallinformation, die den Computer erreicht, bevor der Schallstrom kurz versiegt, weil wir am Satzende kurz pausieren, wird alles Bisherige neu durchgerechnet und mit abgespeicherten Mustern verglichen, um das passendste zu finden.
- Dieser Mustervergleich funktioniert umso besser, je häufiger die Muster sind, die der Computer wahrnimmt. Häufige Muster – also übliche Formulierungen – kann er mit mehr bereits gelösten Fällen vergleichen und deshalb sicherer zuordnen.
Aufgabe 2 | Psycholinguistik | Das Wortquirl-Experiment [10']
Künstliche Intelligenz entsteht durch Algorithmen, die so gebaut sind, dass die Maschine in der Anwendung dieser Algorithmen auf bestimmte Daten lernt – dass also die Algorithmen sich selbst weiterentwickeln und sich dabei die Tätigkeit der Maschine der Umwelt anpasst. Dass auch wir Menschen die Sprache ein Stück weit algorithmisch verarbeiten, also Schritt für Schritt in immergleichen Handlungsmustern, das zeigt Ihnen das Wortquirl-Experiment. Hier erfahren Sie, warum wir schneller lesen, als wir eigentlich lesen könnten:
Lesen Sie den Text im nächsten Absatz laut und flüssig. Stellen Sie eine Hypothese dazu auf, warum das möglich ist.
Gmäeß eneir Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät, ist es nchit witihcg in wlecehr Rneflo-gheie die Bstachuebn in eneim Wrot snid, das ezniige was wcthiig ist, ist dass der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsin-öldn sien, tedztorm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, wiel wir nciht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als gseatems. Ehct ksras! Das ghet wicklirh!
Und jetzt das Gleiche nochmal, aber in Englisch. Überdenken Sie dann Ihre Hypothese von oben.
Wie, vermuten Sie, funktioniert der menschliche Textprozessor beim Lesen?
Aoccdrnig to a rscheearch at Cmabrigde Uinervtisy, it deosn't mttaer in waht oredr the ltteers in a wrod are, the olny iprmoetnt tihng is taht the frist and lsat ltteer be at the rghit pclae. The rset can be a total mses and you can sitll raed it wouthit porbelm. Tihs is bcuseae the huamn mnid deos not raed ervey lteter by istlef, But the wrod as a wlohe. Fcuknig amzanig huh?
- Wenn wir flüssig lesen, achten wir besonders auf die Ränder der Wörter. Was dazwischen liegt, wird summarisch wahrgenommen: Dort stört es kaum, wenn die Reihenfolge der Buchstaben nicht stimmt.
- Dabei spielt keine Rolle, ob man eine Sprache sehr gut oder nur OK spricht. Das Abscannen des Gelesenen auf die Ränder der Wörter als der offensichtlichen Einheiten hin ist ein Verfahren, das beim Lesen aller Sprachen zum Zug kommt, die Laut um Laut geschrieben werden.
Aufgabe 3 | Menschlicher Mehrwert: Kürzestgeschichten-Experiment [5']
Zum Beispiel herausfordern mit Sprache, die Grenzen zum Tabu kennen und nur ganz leicht überschreiten – und so bei unseren Adressaten ganz bewusst einen Cocktail von Emotionen wecken … das schaffen wir Menschen mit sprachlicher Kreativität und mit unserer Lebenserfahrung. Solch menschlichen Mehrwert im Sprachgebrauch erleben Sie beim Verstehen dieser Kürzestgeschichten:
- Beobachten Sie und halten Sie fest, was in Ihrem Kopfkino abgeht, wenn Sie die folgende Kürzestgeschichte lesen:
Zwei Männer trafen einander auf der Jagd. - Was brauchen Autorinnen und Autoren, um eine Kürzestgeschichte wie die folgende schreiben zu können? Und was brauchen die Leser*innen, um den Hinter-Sinn zu verstehen?
Ungebrauchte Baby-Kleider zu verkaufen.
- Der Begriff treffen ist doppeldeutig. Dieser Doppelsinn führt dazu, dass wir eine mentale Vorstellung aufbauen, in der die Männer einander erschießen.
- Mit genug Weltwissen aus Lebenserfahrung erkennen wir hinter dem ungebrauchte die Tragödie, dass ein Baby sicher erwartet wurde, dann aber früh ging oder nie kam.
Aufgabe 4 | Psycholinguistik: Fall Genullnau [15']
Ob Analphabetismus statt Alphabetismus oder genull nau Uhr statt genau null Uhr, Patzer beim Reden verraten, wie unser Hirn Sprache produziert, bevor der Mund sie artikuliert. Und dies kann damit zusammenhängt wie wir uns fühlen, zum Beispiel vor Publikum. Sprache ist also eine Schnittstelle ins Gehirn, in die Seele des Menschen und in seine Gemeinschaften. Das hat die Psycholinguistik herausgefunden. Die Soziolinguistik kann erklären, warum sich Versprecher oft häufen, wenn Menschen vor vielen anderen sprechen.
- Über die Pannen anderer zu lachen, ist nicht schön. Tun Sie’s trotzdem kurz, mit Kostproben der Webseite Radiopannen.
https://radiopannen.de/verwirrt.html
- Wenn Sie schön- äh schon im Internet sein- äh sind, recherchieren Sie kurz, was Helen Leuninger unter einem Versprechervirus versteht.
- Und jetzt das Gleiche, aber mit den Freudschen Versprechern. Wie kommen sie zustande und warum heißen sie so?
- Sprechen vor Mikrofon, Kamera und Publikum bedingt Präsenz auf ganz vielen bewussten und unbewussten Ebenen der Kommunikation und Sprachverarbeitung: vom Herstellen einer Beziehung zum Publikum bis zum Artikulieren der einzelnen Laute. Zugleich stehen Sprecher*innen in ausgestellten Situationen unter psychischem Druck, ihre Sache gut zu machen und Versprecher zu vermeiden. Nach einem ersten Versprecher gerät die Sprachverarbeitung so durcheinander, dass leicht ein zweiter folgt.
- Der Psychoanalytiker Sigmund Freud stellte die Theorie auf, dass hinter all unserem Tun ein paar wenige, grundsätzliche Triebe wirken. Auch wenn sie im Alltage verdrängt werden, prägen sie unser Verhalten, unser Handeln und unsere kommunikativen Angebote. In Freudschen Versprechern schlagen sie durch und werden auf der Ebene des Geäußerten greifbar. Dies etwa dann, wenn jemand dem Gegenüber im Streit empfiehlt, jetzt doch wieder pfleglich miteinander unterzugehen (statt umzugehen).
Aufgabe 5 | Soziolinguistik: ”I have a dream” [20']
Im richtigen Moment genau das Richtige sagen und dabei so überraschen, dass das scheinbar unentrinnbar schwierige Schicksal sich zum Guten wendet: Sprache als beherzte Tat, dies gelang zum Beispiel Martin Luther King, und zwar mit dem Satz I have a dream, mit dem er spontan seine Rede veränderte und damit Weltgeschichte schrieb:
- Lesen Sie, was sich alles in und zwischen den Beteiligten abgespielt hat, bis Martin Luther Kings Rede zu dem wurde, als das sie heute berühmt ist:
https://www.srf.ch/kultur/im-fokus/der-archivar/i-have-a-dream-die-rede-die-ganz-anders-geplant-war
- Welche Rolle spielen dabei der Berater, das Publikum, die Mahalia Jackson? Wo und wie kommen Empathie, Spontaneität, Kreativität ins Spiel?
- Der Berater hatte Martin Luther King nahegelegt, auf das Leitmotiv I have a dream zu verzichten, das der Redner schon zu oft verwendet habe in seiner bisherigen Laufbahn. Ergebnis der Beratung war eine anständige, aber nicht besonders packende Redevorlage, auf die das Publikum träge reagierte. Luthers Freundin Mahalia Jackson im Publikum merkte, dass der Rede das Herz des Redners fehlte und deshalb kein Funke sprang, so schrie sie ihm zu, „Tell ’em about the dream, Martin“. Beim zweiten solchen Zuruf löst sich Luther vom Manuskript und beginnt, aus dem Herzen über seinen Traum zu sprechen. Ab da packt er die Menschen, der Funke springt zwischen Redner und Publikum hin und her – und die Rede schreibt Geschichte.