Sprache und Mensch
Man kann nicht nicht? – Zugänge zur Kommunikation | Oliver Winkler, Ursula Stadler Gamsa
Thema g Offen oder geschlossen
Aufgabe 1 | Frageformate: Ja. Nein. Doch. [15']
Friedrich Nowottnys Interview mit Altkanzler Willy Brandt vom 06. Juli 1971 gilt als legendär in der Geschichte des deutschen Journalismus. Schauen Sie sich das Interview an und beantworten Sie die folgenden Fragen:
- Überlegen Sie, warum Nowottny vermutlich das geschlossene Fragenformat wählte.
- Schauen Sie das Video erneut und notieren Sie sich die geschlossenen Fragen. Schreiben Sie die geschlossenen Fragen in offene Fragen um. Was können Sie beobachten?
a.
Nowottny hat Jahrzehnte später zu seinem legendären Interview ausgesagt, dass der leitende Redakteur ihm mitteilte, den Kommentar Willy Brandts in ca. einer Minute für eine Platzierung in der Tagesschau einzuholen. Nowottny entschied sich also aufgrund kontextueller Umstände für das geschlossene Format, wenngleich offene Fragen dem Zuschauer einen Mehrwert geboten hätten. Ein adäquates Ausgleichen des Informationsdefizites war mit den einsilbigen Antworten Brandts nicht möglich.
b.
- War die Währungsfrage, die ungelöste Währungsfrage, das schwierigste Problem dieser Konsultationen? --> Was war das schwierigste Problem dieser Konsultationen?
- Und sie haben den Präsidenten keine Lösung von unserer Seite aus mit auf den Rückweg geben können? -->Welche Lösungsvorschläge haben sie dem Präsidenten präsentiert? / Was waren die Ergebnisse der Konsultation?
- Haben Sie ihm die Termine genannt, die so wichtig sind? Die Termine, die Festlegung des Wechselkurses der D-Mark? --> Was haben Sie dem Präsidenten noch mitgegeben?
- Sie sind sicher, dass er trotzdem befriedigt war? -->Wie bewerten Sie die Konsultationen? / Was denken Sie, wie der Präsident die Konsultationen bewertet?
Ungeachtet des genauen Wortlauts der offenen Fragen werden die offenen Fragen allesamt mit Interrogativpronomen eingeführt. Ebenfalls enthalten die offenen Fragen weniger spezifische Informationselemente, geben damit dem Antwortenden auch mehr Freiheiten, welche Informationen er überhaupt preisgeben möchte.
Aufgabe 2 | Fragetypen: (Un-)Aufmerksames Zuhören I [10']
Mit Fragen steuern und beeinflussen wir den Gesprächsverlauf. Welche Fragetypen werden im Interview mit dem Fußballer Toni Kroos genutzt und welche Funktion erfüllen diese?
Der Interviewer benutzt geschlossene Fragen, zumeist sogar Deklarativsatzfragen, also Aussagen, die intonatorisch als Frage markiert werden. Insbesondere die letzten beiden Fragen hatten zur Funktion, den Gesprächspartner zu einer Aussage zu bewegen, dass der Gewinn des Spiels unverdient war.
Aufgabe 3 | Gesprächssituationen: (Un-)Aufmerksames Zuhören II [10']
Schauen Sie sich das Video aus Übung 2 erneut an:
Welche verbalen, nonverbalen oder paraverbalen Cues gibt es, um das drohende Scheitern der Gesprächssituation zu erahnen?
Wie reagiert der Interviewte auf das Scheitern? Denken Sie zurück an das Kapitel zum Facework und der Konversationsanalyse.
Der Interviewer missachtet die Signale, die Kroos bei seiner ersten Antwort zum Spielverlauf gibt: der Blick wendet sich ab, konstantes Durchschnauben, schnelleres Sprachtempo, der eher parataktische Satzbau zum Ende der Antwort. All diese Signale hätten als Anzeichen gedeutet werden können, eine thematisch andere Anschlussfrage zu stellen.
Der Interviewte reagiert darauf mit dem Aufbrechen der etablierten höflich-distanzierten Beziehung zu Beginn («Sie“ [Min. 00:12] -> «Du»). Danach folgt ein Face-Threatening Act durch Kroos, der ohne Abmilderung geäussert wird. In der Folge unterbrechen sich beide Sprecher vermehrt, um das Rederecht einzufordern (Interviewer -> Rechtfertigung, Kroos -> Kritik / Unmutsbekundung). Spätestens zu diesem Zeitpunkt, hätte der Interviewer als achtsamer Zuhörer und Beobachter, die Zeichen deuten sollen (Kopfschütteln, FTA, unruhigere Stimmführung und Körperhaltung), dass ein erneutes Nachhaken zum Abbruch führt.
Aufgabe 4 | Chatbots: “How are you today?” [10']
Cleverbot ist ein webbasierter, frei zugänglicher Chatbot, der durch Kommunikation mit Menschen erlernt, menschliche Unterhaltungen zu imitieren.
Starten Sie ein Gespräch mit Cleverbot, nutzen Sie dazu als Eröffnungsfrage: «Hello, how are you today?»
Stellen Sie im Laufe des Gesprächs folgende Fragen. Was für Beobachtungen können Sie machen?
- What are dogs? -> How many breeds are there? / How many dog breeds are there?
- Can you name the Beatles? -> Who is still alive? / Who is already dead?
(Die Chatverläufe mit Cleverbot können trotz gleicher Frage differieren. Probieren Sie es ruhig mehrmals.)
Cleverbot antwortet auf gestellte Fragen, ob geschlossen oder offen, immer knapp, da das Hauptinteresse der KI im Ausgleichen des Informationsdefizites liegt, welches der Bot auf Basis vergangener Gespräche antizipiert. Für die Eingangsfrage hat der Bot Ihnen wahrscheinlich mit einer Rückfrage nach Ihrem Befinden geantwortet. Danach war das Bedürfnis des Bots nach Informationsaustausch auf die Eingangsfrage gestillt. Sie waren wieder gesprächssteuernd. Der soziale Aspekt des Fragens, das Aufbauen von Beziehungen zwischen den Gesprächsteilnehmern, ist kein Ziel, was vom Bot verfolgt wird. In Kontexten der menschlichen Kommunikation ist der Beziehungsaufbau ein zentrales Anliegen beider Parteien hingegen.
Bei der Fragenserie (1) und (2) konnte Ihnen auffallen, dass der Bot inhaltliche Rückbezüge (Kohärenz) auf die jeweilige Ausgangsfrage anstellen kann. Diese Rückbezüge werden jedoch beim erneuten Durchgang als widersprüchlich entlarvt (Ringo Starr ist z.B. nämlich nicht tot). Die maschinelle Kommunikation erkennt zwar durchaus z.B. Deiktika (Kap. 2. 1.1.b, „Darstellung, Ausdruck, Appell“), kann diese Kohäsionsmittel oftmals aber nicht korrekt interpretieren, da bei der Analyse der einzelnen Worte / Phrasen der kontextuelle Rahmen fehlt.