Die Praxis in Sprachberufen untersuchen
Die Essenz erzählen: Fallstudien nutzbar machen | Prof. Dr. Daniel Perrin
Thema c Wissenstransformation: Erkenntnisse übersetzen für alle Beteiligten
Aufgabe 1 | Verteilersprache: Der Wissenschaft den Geist austreiben [20']
Der folgende Anfang einer Gastkolumne für ein Wissenschaftsmagazin bezieht sich mehrfach auf einzelne Fälle. Sind das deshalb Fallstudien? Und woran erkennen Sie, dass sich der Beitrag an interessierte Laien sowie an Vertreter*innen möglichst aller Wissenschaftsdisziplinen richtet?
Was es kostet, der Wissenschaft den Geist auszutreiben
Englisch heißen sie Humanities, deutsch Geisteswissenschaften. Zusammen mit den Sozialwissenschaften fragen sie kritisch nach dem Sinn dessen, was Menschen sind und tun. Das ist auf Dauer gewinnbringender für alle Beteiligten, als manchen bewusst – oder lieb – ist.
Daniel Perrin
Zuerst die kleinen Zahlen: In der Schweiz verdient, wer nach einem Studium der Geisteswissenschaften in den Beruf einsteigt, pro Jahr im Schnitt 72 000 Franken. Die Einstiegslöhne von Absolventinnen und Absolventen von Studiengängen in exakten und Naturwissenschaften liegen 2 000 Franken tiefer, bei Recht sind es sogar 14 000 Franken weniger. Die Mär der brotlosen Geistes- und Sozialwissenschaften wird von den Zahlen des Bundesamtes für Statistik klar widerlegt.[1]
Nun die großen Zahlen: Während in der Schweiz das Interesse Studierender an der Palette der Geistes- und Sozialwissenschaften stabil bleibt,[2] sinken in vielen Regionen der Welt die Studierendenzahlen stark oder werden Hochschulbudgets zusammengestrichen. Engpässe in der Hochschullehre führen zu Überlastung, Qualitätseinbußen und mittelfristig deshalb zu nachlassendem Interesse an Fächern, die sich befassen mit den Menschen, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft.[3]
Ausgerechnet. Während Bildungsoffensiven in Asien immer plakativer auf ihr Verständnis von kritischem Denken setzen,[4] droht in der westlichen Welt die Jahrhunderte alte Tradition des Hinterfragens, wie sie von den Geistes- und Sozialwissenschaften gelehrt wird, wegzubrechen. Am Dartmouth College zum Beispiel, einer Hochburg der Humanities in den USA, ist der Anteil Studierender mit solchem Hauptfach seit 1969 von 26 auf 15 Prozent gesunken.[5]
Interesse am Menschen als Basis für Laufbahn
[1] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsindikatoren/bildungssystem-schweiz/bildungsstufen/hochschulen/einkommen-absolventen-hs.html
[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/publikationen.assetdetail.349852.html
[3] Fächerkatalog: https://abouthumanities.sagw.ch/18-gewi-faecher.html
[4] Beispielsweise empfielt das Bildungsministerium in China, Master-Studierende in “全面提升创新能力和发展能力” (unabhängigem und kritischem Denken) zu bilden: http://www.moe.gov.cn/srcsite/A22/s7065/201412/t20141205_182992.html.
Dies mag im Licht solcher Berichterstattung erstaunen:
https://www.srf.ch/news/international/erinnern-verboten-das-verordnete-schweigen-von-tiananmen
[5] https://www.dartmouth.edu/~oir/data-reporting/factbook/index.html
Dies scheint absurd im Licht der Tatsache, dass auch in den USA viele einflussreiche Persönlichkeiten in Wirtschaft und Politik ihre Karriereleiter auf ein Fundament in Geistes- und Sozialwissenschaften abstützen, wo sie mehrperspektivisch denken gelernt haben.[7] Das kann groteske Züge annehmen. Lloyd Blankfein etwa, Studium in Geschichte, dann Recht, pflegte seine «umfassende Persönlichkeit» zu loben – und agierte zugleich als CEO und Verwaltungsratspräsident von Goldman Sachs.[8]
Einzelfälle von Übernutzung der angeeigneten scharfen Werkzeuge also auch hier. Unumstrittene Beispiele erfolgreicher Laufbahnen aber, die auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Themen bauen, gibt es viele.[9] Dazu zählt in der Schweiz etwa der Weg von Karin Keller-Suter vom Sprachprofi zur Bundesrätin. Nach der Ausbildung an der Dolmetscherschule Zürich (heute ZHAW) studierte sie Politologie in London sowie Montreal und Pädagogik in Fribourg.
Mit einem Studium in Medizin, Psychologie und Psychotherapie in Lausanne startete Bertrand Picard ins Berufsleben. Interesse für menschliches Verhalten in Extremsituationen lenkte die Studienwahl. Er wurde zum international anerkannten Psychiater mit Arbeitsschwerpunkt Hypnosetherapie, mit Ehrendoktorat in «Science and Letters». Berühmt ist er aber als erster, der die Welt 1999 im Heißluftballon und 2016, zusammen mit André Borschberg, im Solarflugzeug umrundete.
[7] Beispiele in den USA: http://time.com/3964415/ceo-degree-liberal-arts/
[8] Gregoire, Carolyn. (2014-01-28, updated 2017-12-06). This is irrefutable evidence of the value of a humanities education. Huffpost. https://www.huffpost.com/entry/the-unusual-college-major_n_4654757
[9] Beispiele in der Schweiz: https://abouthumanities.sagw.ch/09-who-are-they.html
Aufgabe 2 | Alltagssprache: A wie Aufmerksamkeitsökonomie [10']
Ein Kulturmagazin veröffentlicht mit jeder Ausgabe einen Beitrag zu einem Kulturlexikon, das im Internet weiter wächst. Die Beiträge verfassen Gastautor*innen. Lesen Sie den folgenden Lexikoneintrag, verfasst in Alltagssprache, und überlegen Sie, wie eine Fallstudie angelegt sein muss, die stützt, was hier steht.
A wie Aufmerksamkeitsökonomie
Hi! Hei! Hey, ja! Du da, das ist für dich: Aufmerksamkeit ist die neue Währung. Und je mehr um sie gebuhlt wird, desto knapper wird sie, deine Aufmerksamkeit.
Ulli Linnenbrink in Franz Hohlers «Der Liederhörer» (1979) sagt das so: «Liedermachen ist keine Kunst, aber Liederhören kann nicht jeder.» Das war in einer Zeit, in der «alle Festivals […] ihre kreativitätsfördernde Wirkung getan» hatten. Da gab es «so viele Liedermacher, daß niemand mehr übrigblieb, um die Lieder zu hören». Linnenbrink sprang in die Bresche und verdiente sein Geld als Liederhörer. Er auf der Bühne, all die Liedermacher als zahlende Gäste im Saal.
So etwa steht es laut Theorien zur Aufmerksamkeitsökonomie um das Verhältnis von Angebot und Nachfrage im Informationsgeschäft. Das knappe Gut sind nicht mehr die Nutzungsangebote, knapp ist die Aufmerksamkeit. Je digitaler und vernetzter die Welt, desto günstiger lassen sich Werbebotschaften, aber auch Unterhaltungs- und Bildungsangebote herstellen und verbreiten. Für die möglichen Adressat*innen hat der Tag indes, nach wie vor, nur 24 Stunden.
Wer in diesem gesättigten Markt die Aufmerksamkeit anderer aufs eigene Angebot zu ziehen vermag, kann sich damit nicht nur Einkommen verschaffen, sondern auch Status und Selbstwert sichern. Likes unter Beiträgen in sozialen Medien etwa verkörpern für viele Ruhm, Prestige, Prominenz. Zählbare Aufmerksamkeit gilt ihnen als soziale Leitwährung. «Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen», schrieb der Stadtplaner Georg Franck 1998 in seiner «Ökonomie der Aufmerksamkeit».
Dies gilt im Alltagsgeschwätz auf X und Insta so sehr wie in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft: Gekauft, gewählt und zitiert wird nur, wer vorher mal wahrgenommen worden ist.
Hei, du! Bist du noch da? Danke fürs Auf-Merken, Lesen – und Weiterempfehlen des Beitrags.
https://www.coucoumagazin.ch/de/magazin/kulturlexikon/584277/A-wie-Aufmerksamkeitsoekonomie.html
Ein mögliches Fallstudiendesign, unter vielen, sucht Hard-Core-Fans einer Augmented-Reality-Brille wie Apple Vision Pro und greift dort die Daten ab, selbstverständlich mit Einverständnis der Trägerin, des Trägers. In diesen Daten zeigt sich lückenlos, wo die Person ihre Aufmerksamkeit hin richtet, die die Brille trägt. Diese Beobachtungsdaten können die Forschenden ergänzen mit Daten aus ereignisgestützten retrospektiven Verbalprotokollen: Sie spielen der untersuchten Person die Aufzeichnung der Brillenkameras ab und bitten sie, laufend zu kommentieren, was sie hier gerade tut und warum sie es tut.
Eine Fallstudie ohne Digitaltechnik könnte so aussehen: Die untersuchte Person führt über einen bestimmten Zeitraum ein Tagebuch, wo sie laufend einträgt, was ihre Aufmerksamkeit am meisten erregt hat und wie sie auf den Reiz reagiert hat.
Aufgabe 3 | Wissenstransformation: Writer’s Toolbox [20']
Beschreiben Sie am Beispiel der Writer’s Toolbox und des Schreibwerkzeugkastens, was Wissenstransformation ausmacht:
Wissenstransformation bezweckt, Wissen nutzbar zu machen für eine Zielgruppe, die über dieses Wissen noch nicht verfügt. Hier ist es Wissen aus empirischer Textproduktionsforschung. Die Zielgruppe sind beruflich Schreibende, die aber selbst nicht über Textproduktion forschen. Für sie sind die empirischen Daten so zusammengefasst, dass sie sie leicht verstehen können: als kurze Storys zu einem typischen Problem im Schreibprozess, das man in Griff bekommen kann mit einer bestimmten Technik, wie sie eben die untersuchten erfahrenen Schreibenden oft anwenden. Die Storys führen alle durch die fünf Stufen der Narration, allerdings in etwas umgestelltem Aufbau. Am Beispiel der Etappen-Technik:
Exposition: Typische Situation im Schreibprozess, Sie stecken fest beim Schreiben und wissen nicht weiter.
Komplikation: Jetzt können Sie vieles falsch machen – indem Sie zurückschweifen zum Anfang.
Evaluation: Das tun wir immer wieder, und es ist nützt nicht nur nichts, sondern schadet sogar.
Resolution: Machen Sie nur die letzte Etappe des Schreibens sichtbar am Bildschirm. Da steigen Sie nach einer Pause wieder ein.
Koda: So kommen Sie nicht nur rascher voran, sondern schreiben auch einen besseren Text.
Aufgabe 4 | Transdisziplinär: Anspruchsgruppentreffen [10']
Welche Anspruchsgruppen nennt der folgende Klappentext für ein Buch, das im Wesentlichen auf Fallstudien-Forschung basiert? Welche Anspruchsgruppen dürften in ähnlichen Publikationen zu den Befunden aus den Fallstudien Biomed und Syrien nicht fehlen?
Transdisciplinarity in Financial Communication
Writing for Target Readers
Marlies Whitehouse
This open access book identifies and analyses problems of text production in finance from three complementary perspectives: problem identification, problem analysis, and problem solution. By doing so, it explains why solving these problems in transdisciplinary collaboration benefits theory, practice, and society at large. Drawing on 25 years of ethnographic research, roughly 2100 text products, and more than 190 interviews with different stakeholders, it develops and evaluates measures to improve the communicative potential of financial texts and thereby make them accessible to professionals. The book will appeal to researchers and reflective practitioners in financial communication, organizational communication, financial analysis, investor relations, journalism, and applied linguistics.
Der Klappentext nennt die Zielgruppen der Finanzkommunikation (“Target Readers”), die Finanzwelt (“finance”), Teilbereiche und Nachbarfelder der Finanzwelt (“financial communication, organizatonal communication, financial analysis, inverstor relatons, journalism”), die Wissenschaft (“theory”, “researchers”, “applied linguistics”), die Profis in der Finanzkommunikation (“practice”, “professionals”, “reflective practitioners” ) und die Gesellschaft als Ganzes (“society at large”, “open access”).
Klappentexte für Bücher zu den Fallstudien Biomed und Syrien nennen idealerweise ähnliche Anspruchsgruppen, wobei die Finanzwelt und ihre Teilhabenden bei Biomed der Organisationskommunikation weicht und bei Syrien dem Journalismus und der Sprachmittlung.